Angriffe auf Bundestagswahl "Wir sind sehr wachsam"
Corona-Bedingungen, zerstörte Wahllokale in den Flutgebieten, Desinformationskampagnen im Netz und die Gefahr von Hacker-Attacken: Bundeswahlleiter Thiel über reale und potenzielle Probleme bei der Bundestagswahl.
tagesschau.de: Dies wird die erste Bundestagswahl unter Corona-Bedingungen. Was heißt das für Sie als Cheforganisator? Was alles ist anders als normal?
Georg Thiel: Erstmal die Hygienevorschriften. Die gibt es in der Form normalerweise nicht. Außerdem haben die Vorbereitungen für die Wahl viel früher begonnen. Und ganz konkret: Kleine Wahllokale werden gegen große ausgetauscht, damit genügend Platz ist. Und wir rechnen mit einem erheblichen Anstieg der Briefwahl.
Georg Thiel leitet seit November 2017 das Statistische Bundesamt. Der Jurist übernahm damit zugleich das Amt des Bundeswahlleiters. Als unabhängiges Wahlorgan ist die Bundeswahlleitung für die Durchführung von Bundestags- und Europawahlen verantwortlich.
tagesschau.de: Gibt es genug freiwillige Wahlhelferinnen und Wahlhelfer?
Thiel: Wir brauchen 650.000 bis 700.000 Menschen, die helfen. Und erfahrungsgemäß ist es vor allem in der Endphase schwierig, genug Ehrenamtliche zu finden. Wir haben daher früh dafür gesorgt, dass sie in der Impfreihenfolge aufrücken konnten. Bislang habe ich von den Landeswahlleitungen keine akuten Hilferufe gehört.
tagesschau.de: Wie sieht es in den Flutgebieten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen aus? Wie und wo können die Menschen dort wählen?
Thiel: Die meisten Wahllokale in den Flutgebieten gibt es nicht mehr. Betroffen ist vor allem der Wahlkreis 198, also Ahrweiler. Auch haben viele, selbst betroffene Menschen in den Wahlämtern andere Sorgen, als eine Wahl zu organisieren. Und viele betroffene Menschen haben andere Sorgen, als zu wählen. Die Wahlbehörden dort können beispielsweise Zelte und Container vom THW als Behelfswahllokale aufstellen oder auch andere neue passende Lokalitäten nutzen. Da sind die Landeswahlleitungen jetzt im Feintuning.
tagesschau.de: Vielerorts können Sie nicht einmal Wahlbenachrichtigungen zustellen ...
Thiel: Stimmt, wir müssen andere Wege gehen. Plakate aufhängen, Aufrufe über die Medien, Anzeigen in Zeitungen. Jeder soll wissen, wie und wo und wann er in den betroffenen Gebieten wählen kann. Und man kann auch ohne Wahlbenachrichtigung wählen.
tagesschau.de: Und Wählen in den Behelfswahllokalen ist genauso sicher und geheim wie im Wahllokal?
Thiel: Selbstverständlich. Es gibt eine verschlossene Briefwahlurne und eine abgeschirmte Wahlkabine. Alles wie im Wahllokal.
tagesschau.de: Die Flutkatastrophe und die wieder steigenden Corona-Zahlen: Könnte man die Bundestagswahl notfalls auch verschieben?
Thiel: Das wäre Sache des Bundespräsidenten, nicht der Bundeswahlleitung. Aber wir sind gut gerüstet und glauben, eine höhere Inzidenz gut meistern zu können. Alle Wahlen in diesem Jahr haben ja auch gezeigt, dass das zu schaffen ist. Zumal im Frühjahr zu den Landtagswahlen die Zahlen noch höher waren. Wir haben Erfahrungen mit den Landeswahlleitungen ausgetauscht und gefragt nach etwaigen Problemen in Wahllokalen mit Maskenverweigerern. Die gab es aber gar nicht. Inzwischen sind die Teams auch überwiegend durchgeimpft - also, wir sind gut gerüstet.
tagesschau.de: Haben Sie auch personell aufgerüstet? Falls Leute erkranken oder in Quarantäne müssen?
Thiel: Wir haben beim Bundeswahlleiter A-, B- und C-Teams aufgestellt. Wenn einer aus dem A-Team krank wird, rückt das B-Team nach, usw. Auch für die Briefwahl werden die Wahlbehörden ihre Teams aufstocken. Denn es ist ja nicht nur das Auszählen, auch die Anträge auf Briefwahl müssen schnell bearbeitet werden.
tagesschau.de: Mit welchem Anteil an Briefwählern rechnen Sie?
Thiel: Wir rechnen mit einem deutlichen Anstieg. Es kann auch eine Verdoppelung sein. Eine Prozentzahl zu nennen, ist schwierig, weil die Unterschiede regional so groß sind. Im Wahlkreis Würzburg haben bei der vergangenen Bundestagswahl beispielsweise 45,7 Prozent per Briefwahl abgestimmt, in den ostdeutschen Ländern lag der Anteil demgegenüber teilweise bei 13 Prozent. Sicher ist wohl: Es werden erheblich mehr.
tagesschau.de: Es gibt immer wieder Versuche, Zweifel an der Legitimität der Briefwahl zu schüren. Auch in den USA konnte man entsprechende Kampagnen beobachten.
Thiel: Die Briefwahl ist sicher. Die Briefwahlstimme zählt auch genauso wie eine Stimme im Wahllokal. Und: Die Auszählung findet öffentlich statt. Ich sage das hier noch mal so klar, weil immer wieder anderslautende Gerüchte kursieren. Briefwahl gibt es seit 1957. Und bislang gab es noch nie Anhaltspunkte für Manipulationen in einem Ausmaß, dass sie das Wahlergebnis beeinflusst hätten. Obwohl der Anteil gestiegen ist.
tagesschau.de: Wahlen sind immer auch ein potenzielles Ziel von Hacker- und Cyberangriffen. Wie sind Sie hier gerüstet?
Thiel: Wir stellen uns darauf ein, dass etwa am Wahltag so eine Attacke passieren kann. Aber wir sind auch dafür gut gewappnet. Wir haben zum Beispiel das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) an unserer Seite und haben extrem viel getan, um die Kommunen zu schulen. Das Interesse dort ist riesig. Bei den bisherigen Terminen zum Thema "Absicherung des Wahlprozesses" waren insgesamt mehr als 1400 Kommunalvertreter aus ganz Deutschland dabei. Wichtig ist auch, dass überall die IT auf dem neuesten Stand ist - die Hacker-Attacke in Anhalt-Bitterfeld hatte hier eine Alarmwirkung für alle Kommunen. Das hat alle nochmal sensibilisiert.
tagesschau.de: Cyberangriffe auf die Wahl sind also durchaus eine realistische Gefahr?
Thiel: Wir sind sehr wachsam. Als ich angefangen habe, hatten wir eine Risikoliste von 40 Punkten. Heute ist diese Liste viel länger - auch die der Gegenmaßnahmen. In den Tagen vor der Wahl und am Wahltag selbst beobachten unsere Experten sehr genau, was im Netz passiert und erkennen hoffentlich mögliche Attacken im Vorfeld.
tagesschau.de: Wie schätzen Sie die Gefahr von Desinformationskampagnen im Umfeld der Wahl ein?
Thiel: Die gibt es. Die sind real. Da wird im Netz verbreitet: "Die Briefwahl ist nicht sicher." Oder: "Der Stimmzettel ist ein anderer." Seit Monaten beobachten wir das - und es wird vermutlich bis zum Herbst noch zunehmen. Wir versuchen dann sofort dagegen zu halten und diese Falschbehauptungen mit Fakten zu widerlegen. Bislang ist uns das ganz gut gelungen. Auch, weil wir vor allem das Social-Media-Team aufgestockt haben.
tagesschau.de: Bei dieser Bundestagswahl sind auch Parteien zugelassen, die zum Teil vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Warum dürfen die teilnehmen?
Thiel: Weil wir nur formale Kriterien prüfen, ob eine Partei zur Wahl zugelassen wird. Der Wahlausschuss prüft keine Parteiprogramme. Ob die Ziele von Parteien verfassungskonform sind, kann nur das Bundesverfassungsgericht prüfen. Für uns zählen Formalien wie zum Beispiel Unterstützungsunterschriften. Und diese formale Prüfung ist schon schwierig genug.
tagesschau.de: Aber ist diese Trennung noch zeitgemäß?
Thiel: Der Bundeswahlleiter und der Bundeswahlausschuss machen keine Gesetze, sondern führen diese aus, deshalb wäre diese Frage an den Gesetzgeber, also an das Parlament, zu richten.
tagesschau.de: Was macht der Bundeswahlleiter am 26. September 2021?
Thiel: Ich werde wie üblich um 5 Uhr aufstehen. Am frühen Morgen erkundige ich mich, ob alles planmäßig läuft im Reichstagsgebäude, also ob alle Systeme funktionieren und alle Funktionsträger vor Ort sind und keiner kurzfristig erkrankt ist. Anschließend besuchen wir einige Wahllokale um den Helfern persönlich zu danken und begleiten den Bundespräsidenten, wenn er sich bei den Helfenden bedankt. Nachmittags wird die Wahlbeteiligung bis 14 Uhr bekannt gemacht. Um kurz nach 18 Uhr schauen wir uns die Schätzungen der Demoskopen an und zwei Stunden später sehen wir uns die ersten Ergebnisse an. Wichtig ist, dass nun alle fit bleiben, denn jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Die Ergebnisse laufen ein, müssen auf Plausibilität geprüft werden, das kann dann bis zum frühen Morgen dauern.
tagesschau.de: Welche Probleme können auftauchen?
Thiel: Es gibt immer die unvorhergesehenen Probleme: Ein Land meldet einen Wahlkreis nicht, der Wahlkreischef oder die -chefin ist gerade nicht erreichbar oder es hakt in einer Qualitätsschleife. Denn es ist ja so: Ein Ergebnis wird nicht einfach ins System eingegeben, sondern es muss zunächst viele Qualitätsschleifen durchlaufen. Jetzt stellen wir eine Ungereimtheit fest, die Wahlmannschaft ist aber schon nach Hause gegangen und muss wieder geholt werden.
tagesschau.de: Wann rechnen Sie mit einem vorläufigen amtlichen Ergebnis?
Thiel: Wenn der Tag langsam anbricht. Das wäre dann so 5 oder 6 Uhr.
Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de