SPD-Kommunikation "Schlagworte reichen nicht"
Was macht Schulz falsch? Die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit ist zu abstrakt, so die Sprach- und Kognitionsforscherin Wehling im Interview mit tagesschau.de. Erfolgreich kann die SPD nur sein, wenn sie klar macht, was sie damit meint.
tagesschau.de: Als Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD antrat, war die Hoffnung groß. Doch seit er formuliert, was die SPD will, geht es in den Umfragen bergab. Was macht er falsch?
Elisabeth Wehling: Er ist mit der Forderung nach mehr Gerechtigkeit herausgetreten. Doch die soziale Gerechtigkeit oder auch andere Schlagwörter wie Freiheit, Gleichheit oder Solidarität sind sehr abstrakte politische Ideen, die von unterschiedlichen politischen Parteien unterschiedlich ideologisch gefüllt werden können. Die Forschung hat gezeigt,dass das Gehirn hier nur ein minimales semantisches Skelett hat, woran es sich entlanghangeln kann. Um zu fassen, worum es wirklich geht, muss ein Konzept wie "soziale Gerechtigkeit" gründlich ausstaffiert werden.
Elisabeth Wehling forscht an der University of California in Berkeley zu Gehirn, Sprache und Ideologie. In ihrem Buch "Politisches Framing" zeigt sie auf, wie sich Sprache auf unser Denken und Handeln auswirkt und damit auch die Politik bestimmt.
Das wäre dann der Fall, wenn Schulz zum Beispiel konkret ausführen würde, was er damit meint. Nicht, indem er Positionen auflistet, sondern indem er seine moralische Weltsicht konkretisiert. Sonst begreifen die Mitbürger ihn nicht, sondern füllen aufgrund ihrer eigenen Denkmuster aus, was soziale Gerechtigkeit bedeutet. Damit haben Sie ein totales Kommunikationswirrwarr, weil man sich gegenseitig gar nicht begreift. Das kann im politischen Miteinander zu einer unglaublichen Frustration führen.
Nicht Emotionen, Ideologien entscheiden
tagesschau.de: Ist der SPD-Wahlkampfbegriff der sozialen Gerechtigkeit also einfach zu abstrakt?
Wehling: Er ist zu hoch gefasst. Damit ist die SPD aber nicht alleine: Andere setzen auf Schlagworte wie Freiheit oder Stabilität. Aber wie man kürzlich in Großbritannien bei Theresa May gesehen hat, reicht es eben nicht, zwei große Schlagworte aufzufahren und zu denken, der Wähler werde sich dann schon alles weitere dazu denken.
Von "Stabilität" und "nationalem Interesse" hat Premierministerin May unermüdlich vor der Wahl in Großbritannien gesprochen - der Erfolg blieb aus.
tagesschau.de: Sind die Begriffe, die immerzu wiederholt werden - im Falle von Schulz die soziale Gerechtigkeit - also zu wenig mit Emotionen verknüpft?
Wehling: Das Entscheidende ist gar nicht so sehr die Emotion, sondern die Ideologie. Schulz formuliert bisher die progressive Ideologie nicht so stark aus, wie man sich das wünschen würde. Und so können die Leute gar nicht begreifen, was sein Gerechtigkeitsverständnis ist. Die Ideologie- und Kognitionsforschung besagt, dass Menschen sich bei einer Wahl nach ihrem Moralempfinden entscheiden, aber nicht nach ihrem materiellen Eigeninteresse. Deswegen kann ja auch ein armer Amerikaner Donald Trump wählen. Entscheidend ist also die Frage: Was ist richtig, was ist falsch? Das darf man aber nicht mit Emotion verwechseln. Der Trend in der Politik hin zu emotionalen Botschaften ist aus der Werbung übernommen - damit liegt man für das politische Miteinander völlig falsch. Denn es sind nicht Gefühle, die konservativ und progressiv denkende Menschen voneinander unterscheiden, sondern ihre Grundauffassungen von richtigen und falschen gesellschaftlichen Prozessen.
Das könnte Schulz natürlich ausbauen: Bei der sozialen Gerechtigkeit spricht er nach wie vor davon, dass wir eine Umverteilung von oben nach unten brauchen. Damit spricht er die implizite, kognitive Metapher an, nach der oben gut ist und unten schlecht: Man blickt auf jemanden "herab" oder schaut zu ihm "auf". Sie wurde auch in Verhaltensexperimenten nachgewiesen. Wer diese Sprache benutzt für unser Miteinander, vermittelt implizit die Interpretation, dass reiche und sozial, wirtschaftlich und politisch einflussreiche Menschen moralisch besser sind. Wer denkt, alle Menschen sind gleich viel Wert, muss anders sprechen. Da könnte Schulz nachbessern.
Sprache macht Politik: Nach Ansicht der aktuellen Forschung prägt nicht die Vernunft unsere Wahlentscheidungen, sondern kognitive Deutungsrahmen, die über Sprache aktiviert werden. Demnach werden mit jedem Wort im Gehirn bestimmte Deutungsrahmen aktiviert, die uns sagen, wie eine Sache ist - und zwar mit einer bestimmten ideologischen Prägung.
Viele Sprachbilder entsprechen konservativer Weltsicht
tagesschau.de: Wie müsste Schulz also seine Sprache anpassen, um das zu sagen, was er politisch erreichen möchte?
Wehling: Die besten Begriffe sind die, die seine Ideologie sichtbar machen – abseits von einzelnen Positionen oder Faktendebatten. Er bewirbt sich ja als Gegenkandidat von Bundeskanzlerin Merkel, weil er eine andere Ideologie hat. Und diese Ideologie muss er sichtbar machen. Wenn er sich in eine Fernsehshow setzt und sagt, es ist Zeit für eine Umverteilung von oben nach unten, dann aktiviert seine Sprache sozialdarwinistische Narrativen, nach denen etwa Reichtum ein Zeichen von Stärke ist. Wenn er statt sozialer Gerechtigkeit sagen würde: Bei uns in Deutschland ist jeder Mensch gleich viel Wert ohne Ansehen seines Geldes, ohne Ansehen seiner Privilegien und seines Einflusses; wir wollen uns gegenseitig hier in Deutschland gleichermaßen schützen und befähigen. Wir werden niemandem schaden, weder durch falsche Verbote noch durch Mangel an Schutz. Das ist das moralische Mandat einer Regierung, das ist progressiver Patriotismus.
tagesschau.de: Von Merkel selbst hört man im Wahlkampf bislang extrem wenig - warum funktioniert diese Strategie trotzdem?
Wehling: Merkel setzt auf einen Diskurs auf, der eher ihrer Politik zuträglich ist - nämlich der gesamte Diskurs, auf den sich die Parteien in den vergangenen zwei, drei Jahren eingelassen haben. Zum Beispiel beim Thema Menschen auf der Flucht, wo man von Flüchtlingsströmen und Obergrenzen spricht. Oder auch bei der Frage, wie viel der Mensch für sich alleine leisten muss und was wir kollektiv organisieren. Auch, wie viel Schutz wir Menschen und Natur durch Regulierungen zukommen lassen. Es gibt hier viele Sprachbilder, die eher einer konservativen Weltsicht entsprechen. Merkel hat Glück, wie übrigens viele Politiker weltweit, die eher konservativ ausgerichtet sind, dass unsere Debatten derzeit stärker von konservativer Sprache durchzogen sind.
tagesschau.de: In Deutschland ist nun auch Macron viel beachtet worden. Der galt dort als der Kandidat der Vernunft. Welches Framing hat er denn geschickt gesetzt?
Wehling: Macron hat den Mut gehabt, Worte und Ideen in den Mund zu nehmen und auf den Tisch zu bringen, die nicht allzu ungefähr blieben. Er war schon etwas konkreter in seinen Bildern und machte ein gutes Gegenmodell auf zu Le Pen. Aber natürlich hat auch das völlige Verharrren der bisher bestehenden traditionellen Parteien in ihrer undeutlichen Kommunikation zu seinem Erfolg beigetragen. Klar zu erkennen waren bei ihm die progressiven Ideen, etwa das klare Bekenntnis zu Europa. Das hat er geschickt gemacht, auch indem er Wörter wie Revolution in den Mund genommen hat.
Trump - ein Experte für politisches Framing
tagesschau.de: Noch ein Blick in die USA: Wie hat es Trump geschafft, dass die Menschen das Gefühl haben, er spricht sie direkt an?
Wehling: Trump betreibt das Framing sehr professionell und hat da einige Experten im Boot sitzen. Trump hat mehrere knallharte ideologische Frames: So spricht die Vorstellung, dass sich der Stärkere im Miteinander durchsetzt, viele Amerikaner in der Seele an. Darin ist jeder, der stark ist, als per se gut definiert. Reichtum ist damit ein Zeichen moralischer Stärke. Die Narrative herrscht vielerorts in Amerika vor, denn das Land ist viel stärker kulturell und politisch sozialdarwinistisch geprägt als zum Beispiel Deutschland. Im Wahlkampf hat Trump etwa gesagt: Ich bin reich und das macht mich gut. Also Reiche sind deshalb reich, weil sie besser sind als Arme. Und jetzt verhält er sich weiter danach: Er ist jetzt Präsident und damit in seiner Weltsicht die moralische Autorität über alle anderen. Dieses Weltbild eines autoritären strengen Vaters, einer absoluten und durch Reichtum und Macht legitimierten Führungsgestalt, funktioniert bei vielen Amerikanern sehr gut.
tagesschau.de: Sehnen sich die Menschen - auch in anderen Ländern - also doch nach einer Führungsfigur?
Wehling: Grob gesagt haben Sie zwei Typen von Menschen: Die eher Konservativen und die eher Progressiven. Tatsächlich ist es nicht so, dass sich alle Menschen nach einer Führungsfigur sehnen, wie Trump sie darstellt. Sondern es gibt zwischen den eher konservativen Menschen und den eher progressiven Menschen einen Unterschied darin, was man als eine ideale Führungsfigur begreift: Konservative Menschen sehen eine strenge autoritäre Führungsfigur, progressive Menschen eine emphatische, kooperative Führungsfigur als optimal an. Das sehen Sie zum Beispiel in Kanada: Regierungschef Justin Trudeau ist keine strenge Führungsfigur, sondern eine kooperative, empathische Führungsfigur, ebenso wie es Barack Obama als US-Präsident war.
Aber es gibt in Deutschland und anderen Ländern auch eine politische Mitte: Etwa 30 Prozent unserer Bevölkerung sind ideologisch hin und hergerissen. Die entscheiden sich mal für links, mal für rechts - je nachdem, welches Thema gerade besprochen wird, und je nachdem, wie sich die Sprachbilder in der öffentlichen Kommunikation darstellen. Da gibt es viele Dinge im Moment - von Trump in den USA über Erdogan bis hin zu Themen wie Menschen auf der Flucht und Klimawandel - die den Menschen implizit oder explizit Angst machen. Das führt in der Regel dazu, dass die Mitte nach rechts rückt.
Sehr unterschiedliche Führungsfiguren: Trudeau eher kooperativ, empathisch - Trump dagegen autoritär.
Lücke in der deutschen Politik
tagesschau.de: Was muss jetzt an diesem Parteitag von Schulz ausgehen, damit er die Menschen so erreicht, wie es in seinem Sinne ist?
Wehling: Er muss durch und durch kommunizieren aus der Perspektive eines progressiven Menschen. Aus der Forschung gesprochen bedeutet das, er muss für eine fürsorgliche Weltsicht stehen, also Empathie vorleben, Kooperation und Nächstenliebe, den Schutz von Menschen vor psychologischem und vor physischem Schaden - zum Beispiel durch schützende Regulierungen. Und er müsste darauf hinweisen, dass das gute Miteinander oder auch die Gerechtigkeit bedeuten, dass Menschen bekommen, was sie brauchen und nicht dass Menschen bekommen, was sie sich verdienen. Dass Gerechtigkeit bedeutet, die Menschen zu befähigen, den Dingen nachzugehen, die sie glücklich machen. Konkret also eher die Geschichte zu erzählen, wie es Trudeau in Kanada macht oder auch Elizabeth Warren in den USA. Und das fehlt uns im Moment in Deutschland. Die Geschichte des progressiven Patriotismus wird derzeit von keiner deutschen Partei überzeugend erzählt - weder von der SPD noch von den Grünen noch von der Linken.
Der SPD-Parteitag ist auch Thema im Bericht aus Berlin, heute um 18:30 Uhr im Ersten sowie in der Sendung Bericht vom Parteitag um 00:00 Uhr.