BVerfG betont staatliche Schutzpflicht Zwangsbehandlung auch ohne Zwangsunterbringung

Stand: 25.08.2016 16:07 Uhr

Psychisch Kranke dürfen auch gegen ihren Willen ärztlich behandelt werden - bisher allerdings nur in einer geschlossenen Einrichtung. Zu eng gefasst, meint das Bundesverfassungsgericht und sieht einen Verstoß gegen die staatliche Schutzpflicht.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat die Möglichkeiten einer medizinischen Zwangsbehandlung ausgeweitet. So kann eine zwangsweise Behandlung von Patienten auch dann zulässig sein, wenn diese nicht in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind. Das gebiete die staatliche Schutzpflicht, wenn Hilfsbedürftige keinen freien Willen mehr bilden können. Die Karlsruher Richter ordneten eine entsprechende Übergangsregelung an und forderten den Gesetzgeber auf, "die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu schließen".

Im konkreten Fall geht es um eine Frau mit einer Schizophrenie, die mit unkontrollierten Gefühlsausbrüchen verbunden war. Weil sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln konnte, stand sie unter rechtlicher Betreuung. 2014 wurde eine Autoimmunerkrankung festgestellt, die zu Hautausschlägen und Muskelschwäche führte. Für die Behandlung wurde die Frau zwangsweise in einer Klinik untergebracht.

Blick auf die Roben der Richter des Ersten Senats sowie ein Richterbarett beim Bundesverfassungsgericht

Verfassungsrichter betonen Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Fehlende "Weglauftendenz"

Dennoch war sie nach einiger Zeit so geschwächt, dass sie ihr Bett aus eigener Kraft nicht mehr verlassen konnte. Die Gerichte sahen deswegen keinen Grund mehr für eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung - wegen fehlender "Weglauftendenz", wie es hieß.

Zwischenzeitlich war bei der Patientin auch Brustkrebs diagnostiziert worden, den sie aber nicht behandeln lassen wollte. Die Betreuerin beantragte eine weitere Zwangsbehandlung mit der Begründung, die Frau könne die Notwendigkeit der Behandlung nicht erkennen. Nach bisheriger Rechtslage ist eine zwangsweise medizinische Behandlung aber nur bei Menschen erlaubt, die auch zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht sind. Dies war hier aber nicht mehr der Fall. Die Gerichte lehnten eine Zwangsbehandlung deshalb ab.

Gesetzliche Grundlagen lückenhaft

Das Bundesverfassungsgericht betonte in seinem Beschluss das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Zwar sei im Grundsatz jeder Mensch frei, auch über seine Gesundheit "nach eigenem Gutdünken zu entscheiden". Diese Entscheidungen müssten auch nicht nach allgemeiner Anschauung "vernünftig" sein. Anderes gelte aber, wenn Menschen nicht in der Lage sind, sich einen eigenen freien Willen über ihre Gesundheit zu bilden. Dann greife eine staatliche Schutzpflicht. Die Befugnis, in extremen Fällen Zwangsbehandlungen anzuordnen, steht ohnehin nur Gerichten zu. Nach Ansicht der Verfassungsrichter darf sie nicht davon abhängig sein, ob man den Patienten auch in eine geschlossene Abteilung einweisen kann oder nicht. Der Gesetzgeber soll dies entsprechend neu regeln.

Für die Patientin in dem konkreten Fall kommt das zu spät. Sie ist inzwischen verstorben. (AZ: 1 BvL 8/15)

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 25. August 2016 um 14:00 Uhr