Amnesty-Bericht zur Ukraine Zivile Opfer bewusst in Kauf genommen?
Ein Bericht von Amnesty International wirft dem ukrainischen Militär vor, Zivilisten zu gefährden. Kiew weist die Vorwürfe zurück. Was sagen andere Hilfsorganisationen und Experten dazu?
"Die ukrainische Kampftaktik gefährdet Zivilpersonen": So lautet die Überschrift eines Untersuchungsberichts der Hilfsorganisation Amnesty International über Völkerrechtsverstöße im russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Darin bemängelt Amnesty, dass die ukrainischen Truppen gezielt zivile Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser als Militärposten benutzen würden - und dadurch Zivilisten unnötig in Gefahr brächten.
Die Reaktionen auf den Bericht ließen nicht lange auf sich warten: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem "manipulativen Bericht", die Ukraine-Chefin von Amnesty trat aus Protest zurück. Die Menschenrechtsorganisation selbst hielt an den Vorwürfen fest - distanzierte sich jedoch von der Vereinnahmung des Berichts durch russische Staatsmedien.
Städte sind "Hauptziel" der russischen Armee
Ulf Steindl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik, sieht starke Mängel am Bericht von Amnesty. So würde unter anderem der Eindruck erweckt werden, "dass russische Angriffe auf zivile Gebäude primär deswegen erfolgen, da ukrainische Einheiten sich dort aufhalten". Dazu gebe es jedoch keinerlei Anhaltspunkte.
"Vielmehr setzen russische Einheiten seit den ersten Kriegstagen gezielt Waffen gegen Wohngebiete ein", sagt Steindl. "Dies scheint einer klaren Strategie zu folgen, welche Terror in der Bevölkerung verursachen und dementsprechend die Moral senken soll." Zudem habe die ukrainische Armee selten die Wahl, wo sie verteidigen muss. "Das Hauptziel der russischen Streitkräfte war es wiederholt, urbane Zentren einzunehmen." Wegen der gezielten Angriffe gegen Wohngebäude sei daher auch die Stationierung von ukrainischen Truppen zur Verteidigung sinnvoll.
Dafür benötige die ukrainische Armee Bereitstellungsräume, Logistikinfrastruktur, Lazarette und Schutz, weshalb oftmals zwangsläufig Schulen und Krankenhäuser übernommen werden müssten. Der Bericht von Amnesty mangele an Details und liefere keine ausreichenden Belege für ukrainisches Fehlverhalten, so Steindl. "Dies bedeutet nicht, dass es keine Verfehlungen auf ukrainischer Seite gegeben hat."
Vorwürfe gegen ukrainische Armee nicht neu
Die Vorwürfe gegenüber dem ukrainischen Militär sind an sich nicht ganz neu. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hatte bereits im Juli davor gewarnt, dass sowohl ukrainische als auch russische Militärstützpunkte Zivilisten gefährden würden. Konkret kritisierte die Organisation, dass beide Armeen in besiedelten Gebieten Militärbasen errichtet hätten, ohne die Bewohner vorher in Sicherheit zu bringen - ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.
HRW schrieb damals von vier untersuchten Fällen, in denen russische Streitkräfte Militärstützpunkte in besiedelten Gebieten errichteten und unnötigerweise Zivilisten gefährdeten. In drei Fällen hätten ukrainische Streitkräfte Truppen in Häusern, in denen Menschen lebten, stationiert.
Auch ein Bericht des UN-Kommissariats für Menschenrechte (OHCHR) warf der ukrainischen Armee vor, Truppen in der Nähe ziviler Einrichtungen in Stellung zu bringen. Gleichzeitig listete das OHCHR jedoch eine deutlich größere Zahl und Bandbreite an potenziellen Menschenrechtsverstößen und Kriegsverbrechen durch russische Soldaten auf.
"Für die Ukraine ist das ein Dilemma"
Erich Vad, ehemaliger Militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hält die Vorwürfe von Amnesty für plausibel. Die Ukraine hätte ein Interesse daran, die Kämpfe möglichst in urbane Gebiete zu verlagern. "Für die Ukraine ist es militärisch der einzige Weg, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen." Jedoch seien Kämpfe in urbanen Zonen meistens langwierig und in jedem Fall sehr blutig. "Für die Ukraine ist das natürlich ein Dilemma", sagt Vad.
Eine Gefährdung von Zivilisten sei dadurch quasi unvermeidbar. "Russland andererseits will in urbanen Gebieten die Verluste minimieren, nutzt daher die Artillerie, um anzugreifen", sagt Vad. Im Ergebnis würden daher beide Kriegsparteien in Kauf nehmen, dass Zivilisten zu Schaden kommen oder getötet werden.
Ralph Thiele, Vorsitzender des Vereins Politisch-Militärische Gesellschaft, sieht das ähnlich. "Die Verlagerung der Kämpfe in urbane Gebiete ist eine klassische Waffe des Schwächeren in einem Krieg", sagt er. Doch genau das erhöhe auch die Wahrscheinlichkeit ziviler Opfer.
"Aus militärischer Sicht ein probates Mittel"
"Aus militärischer Sicht ist es ein probates Mittel", sagt Vad. "Der Angreifer muss höhere Ressourcen einsetzen und hat höhere Verluste. Daher ist es mit Blick auf den Bericht von Amnesty International schwierig, eine eindeutige Schuldzuweisung daraus zu machen." Denn oftmals sei das Vermeiden einer offenen Feldschlacht außerhalb bewohnter Gebiete die einzige Möglichkeit, einem materiell überlegenen Gegner standzuhalten. Auch in früheren Kriegen wie in Afghanistan, Syrien oder im Irak sei das praktiziert worden.
Die Empörung über den Bericht von Amnesty International erklärt sich Vad daher auch damit, dass die Ukraine als angegriffenes Land moralisch anders bewertet wird im Westen als Russland. "Wir befinden uns in einem Informationskrieg." Daher werde jede Verfehlung natürlich von der Gegenseite für propagandistische Zwecke genutzt. Das sieht auch Thiele so. "Eine kritische Hinterfragung der Ukraine ist nicht gewollt", sagt der Oberst a. D. "Wir müssen jedoch unsere Wertevorstellungen bei beiden Kriegsparteien anlegen."
Alle Kriegsparteien müssen Völkerrecht einhalten
Die Aufregung über den Bericht von Amnesty International hat daher auch viel mit der Art und Weise zu tun, wie die Vorwürfe formuliert und gewichtet sind. Selenskyj sprach beispielsweise von einer "Täter-Opfer-Umkehr", da die russischen Kriegsverbrechen nicht erwähnt werden würden. Auch wenn das aus moralischer Sicht sicherlich eine Rolle spiele, völkerrechtlich gesehen sei das anders zu bewerten, sagt Stefan Talmon von der Universität Bonn.
"Jede kriegerische Handlung wird einzeln bewertet, auch wenn der russische Angriffskrieg generell völkerrechtswidrig ist", sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht. Alle Kriegsparteien seien verpflichtet, das Völkerrecht einzuhalten. Dazu gehöre auch, Zivilisten nicht in Gefahr zu bringen. Durch militärische Stellungen in zivilen Einrichtungen könnten diese als "legitime Ziele" angesehen werden und einen Angriff zumindest aus völkerrechtlicher Sicht rechtfertigen.
Abschließende Beurteilung nicht möglich
Das bedeutet jedoch nicht, dass es dem Militär generell verboten ist, in der Nähe von Zivilbevölkerung und zivilen Einrichtungen zu operieren, sagt Alexander Wentker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Das sei in der Praxis auch gar nicht machbar. "Völkerrechtlich ist die verteidigende Partei daher vielmehr dazu verpflichtet, sich zu bemühen, die Zivilbevölkerung und zivile Objekte aus der Umgebung militärischer Ziele zu entfernen, soweit es irgend möglich ist".
Dazu gehöre auch, es zu vermeiden, innerhalb oder in der Nähe dicht bevölkerter Gebiete militärische Ziele anzulegen. Abschließend bewerten ließen sich die Vorwürfe von Amnesty wegen der Vielzahl von Umständen, die bei dabei eine Rolle spielen, jedoch nicht. "Um die Einhaltung oder Verletzung dieser Pflichten durch die Ukraine beurteilen zu können, wären weitere, detailliertere Hintergrundinformationen zu den von Amnesty International aufgeführten Fällen erforderlich."
Dass das russische Militär den Amnesty-Bericht als Ausrede nutzen könnte, um gezielt zivile Einrichtungen anzugreifen, hält Stefan Oeter, Professor an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg, für denkbar. "Aber die russischen Streitkräfte scheren sich ersichtlich sowieso nicht um die Regeln des Humanitären Völkerrechts und greifen wahllos auch rein zivile Ziele an", sagt er.
Ohnehin erlaube das Völkerrecht einer angreifenden Partei nicht, dass jegliche "Kollateralschäden" in Kauf genommen werden dürften, so Oeter. Das gelte unter anderem für den Angriff auf "militärisch nachrangige Ziele", bei denen "exzessiv hohe Begleitschäden unter der Zivilbevölkerung" in Kauf genommen werden würden.