Anschlag bei Moskau Wie der IS zum Instrument des Westens gemacht wird
Nach dem Terroranschlag bei Moskau blühen die Spekulationen. Die klarsten Indizien weisen auf die Dschihadistenmiliz IS hin. In sozialen Netzwerken wird die Terrorgruppe nun zum Instrument des Westens erklärt, das Russland schaden soll.
Die Konzerthalle "Crocus City Hall" nahe der russischen Hauptstadt Moskau brannte noch, als bereits die ersten Spekulationen und angeblichen Erkenntnisse über den Anschlag in den sozialen Netzwerken auftauchten. Die Ukraine stecke dahinter, mutmaßten einige, vermeintlicher Beweis: Unweit der Halle sei ein Lieferwagen mit ukrainischem Kennzeichen gefunden worden. Zahlreiche Konten in sozialen Medien behaupteten, die USA seien Drahtzieher des Anschlags, weil die US-Botschaft in Russland vor einer möglichen Terrorattacke gewarnt hatte.
Diese Warnung stammte allerdings vom 7. März, als die Botschaft meldete, man verfolge Berichte, "wonach Extremisten unmittelbar bevorstehende Pläne haben, große Versammlungen in Moskau anzugreifen, darunter auch Konzerte".
Noch am Freitagabend veröffentlichte dann die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) eine Botschaft, in der sie den Anschlag mit mehr als 130 Todesopfern für sich reklamierte. Fachleute stufen die Nachricht als authentisch ein, da sie auf zahlreichen bekannten Kanälen der Terrororganisation verbreitet wurde. Doch auch nun beschuldigen zahlreiche Nutzer die USA beziehungsweise Israel als eigentliche Drahtzieher.
Trumps falsche Anschuldigungen
In diesem Kontext taucht dutzendfach ein Trump-Zitat aus dem August 2016 auf, in dem der ehemalige und möglicherweise künftige US-Präsident behauptete: "ISIS ehrt Präsident Obama. Er ist der Gründer von ISIS. Er ist der Gründer von ISIS. Er ist der Gründer. Er hat ISIS gegründet. Und ich würde sagen, die Mitbegründerin ist die korrupte Hillary Clinton, Mitbegründerin."
Diese Anschuldigungen von Trump werden nun als vermeintlicher Beweis benutzt, um den USA die Schuld an den Anschlag in Moskau zu geben. Der IS sei - so die Erzählung vor allem von pro-russischen Konten auf X - ein Instrument des Weißen Hauses und werde als Waffe gegen Moskau eingesetzt.
Allerdings sind die Aussagen von Trump historisch sehr fragwürdig. Die Wurzeln des IS werden von Fachleuten auf die Jahre 1999 bis 2003 datiert, im Jahr 2006 wurde dann der IS im Irak ausgerufen. Als Barack Obama im Jahr 2009 Präsident der USA wurde, existierte bereits längst ein IS-Netzwerk.
Kontroverse Diskussionen gibt es zwar, welche Konsequenzen der US-Rückzug aus dem Irak 2011 und die Strategie Obamas im syrischen Bürgerkrieg im Hinblick auf die wachsende Bedeutung der Dschihadistenmiliz hatten. Der Rückzug aus dem Irak war allerdings bereits von der Regierung von George Bush beschlossen worden - zudem hatte Donald Trump selbst im Jahr 2007 gefordert, die USA sollten sich aus dem Land zurückziehen.
Lange Halbwertszeit von toxischen Inhalten
Trump erklärte im Jahr 2016, kurz nach seinen IS-Anschuldigungen gegen Obama, seine Aussagen seien lediglich "sarkastisch" gemeint gewesen. Doch auch noch acht Jahre später werden seine Aussagen im Netz genutzt, um nach einem Terroranschlag Schuldzuweisungen vorzunehmen. Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie Falschbehauptungen auch langfristig toxisch wirken sowie gezielt in die Irre führen können.
Israel als angeblicher Drahtzieher
Neben den USA wird auch Israel beschuldigt, den IS aufgebaut zu haben beziehungsweise zu lenken. Der jüdische Staat agiere als Strippenzieher im Hintergrund, so die Behauptung von radikal anti-israelischen Profilen auf X und anderen Plattformen, die deutlich an antisemitische Legenden anknüpft. Zudem wird Premier Benjamin Netanyahu als Dschihadist dargestellt und die israelische Flagge mit dem IS-Schriftzug kombiniert.
In zahlreichen Posts wird zudem behauptet, Israel sei nie vom IS attackiert worden, was als vermeintlicher Beweis für die These angeführt wird, die Terrorgruppe werde vom Mossad angeleitet. Tatsächlich hatte der IS tödliche Anschläge in Israel für sich reklamiert, so beispielsweise 2022 in Hadera, wo zwei israelische Polizisten erschossen worden waren.
Ebenfalls sind zahlreiche Posts aufgetaucht, die ein manipuliertes Bild zeigen, in dem israelische Soldaten angeblich gemeinsam mit islamistischen Kämpfern sowie einer Israel- und einer IS-Flagge posieren würden. Tatsächlich sind auf dem Originalbild Soldaten der Israel Defence Forces (IDF) bei einer multinationalen Militärübung mit dem Namen "African Lion" in Marokko zu sehen.
Zweifel an russischen Angaben zu Verdächtigen
In Russland werden derweil die Stimmen - auch von offizieller Seite - lauter, die Schuldzuweisungen in Richtung Ukraine erheben. Basis sind die offiziellen Meldungen, wonach Verdächtige auf dem Weg in die Ukraine festgenommen worden seien.
Der renommierte Historiker Timothy Snyder hält dies für wenig plausibel. "Putins Argument, die Verdächtigen seien auf dem Weg zur russisch-ukrainischen Grenze gewesen, ergibt keinen Sinn", schreibt Snyder auf der Plattform X. Russland habe "20.000 km Grenze", warum sollten die Täter "den Ort ansteuern", fragt Snyder, "an dem die russische Armee und die Sicherheitskräfte am stärksten konzentriert sind?"
ARD-Korrespondentin Ina Ruck aus Moskau sagte ebenfalls, Putin habe "sofort mit dem Finger Richtung Ukraine gezeigt, ohne irgendwelche Beweise zu nennen".
Zudem genießen auch offizielle Angaben des Kremls kaum noch Glaubwürdigkeit - durch zahlreiche Lügen und Falschbehauptungen der vergangenen Jahre hat die russische Propaganda diese selbst und nachhaltig zerstört.
Anmerkung der Redaktion: Patrick Gensing war bis 2022 leitender Redakteur des ARD-faktenfinders und arbeitet inzwischen nebenberuflich als freier Journalist.