Eine Hand hält Handschellen vor einen Streifenwagen der Polizei.
Kontext

Mangelhafte Datengrundlage Kriminalitätsentwicklung mit vielen Fragezeichen

Stand: 24.09.2024 11:08 Uhr

Über Kriminalität in Deutschland wird derzeit viel gesprochen. Politiker fordern schärfere Kontrollen und Gesetze, innere Sicherheit wird zum Wahlkampfthema. Doch Experten bemängeln die Datengrundlage - und warnen vor Alarmismus.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Waffenverbotszonen, Waffenrechtsverschärfungen, Grenzkontrollen: In den vergangenen Wochen erweckt die Politik den Eindruck, dass die Kriminalität in Deutschland eine neue Dimension erreicht hat. Auch Wählerbefragungen zu den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen zeigen, dass das Thema Kriminalität und Innere Sicherheit für viele Menschen bei ihrer Wahlentscheidung eine große Rolle gespielt hat. Aber wie steht Deutschland in Sachen Kriminalität überhaupt da?

Viele Fälle werden wieder eingestellt

Um die Entwicklung der Straftaten in Deutschland zu analysieren, werden in der Politik und in den Medien meistens die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) herangezogen und mit den Vorjahren verglichen. Bei der PKS handelt es sich um eine sogenannte Ausgangsstatistik: Es werden alle durch die Polizei endbearbeiteten Straftaten erfasst, die an eine Staatsanwaltschaft weitergegeben wurden. Daher ist in der PKS auch von Tatverdächtigen und nicht von Tätern die Rede, weil es noch nicht zu einer Verurteilung der Tatverdächtigen gekommen ist.

In sehr vielen Fällen kommt es jedoch gar nicht erst zu einem gerichtlichen Verfahren, sagt Frank Neubacher, Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität zu Köln. "Sehr viele dieser Fälle werden von der Staatsanwaltschaft eingestellt, zum Beispiel weil es minderschwere Fälle sind oder die Beweislage nicht ganz klar ist." In der PKS sind also Fälle enthalten, die später aus verschiedenen Gründen nicht weiter verfolgt werden. Insgesamt werden nur etwas mehr als die Hälfte aller in der PKS erfassten Straftaten am Ende auch aufgeklärt.

Das bedeutet auch, dass bei etwa der Hälfte der in der PKS erfassten Straftaten Informationen zur Person des Tatverdächtigen nicht ermittelt werden konnten.

Andere Datengrundlage ist Strafverfolgungsstatistik

Anders ist das bei der sogenannten Strafverfolgungsstatistik. Hier werden nur die Straftaten erfasst, die zu einer Verurteilung oder einer Aburteilung - zum Beispiel einen Freispruch - durch ein Gericht geführt haben. Nicht dazu zählen allerdings Fälle, bei denen zum Beispiel das Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße auf staatsanwaltschaftlicher Ebene eingestellt wurde und es somit nicht zu einer Anklage kam.

"Nur die gravierenderen Fälle landen vor Gericht", sagt Neubacher. Auch laufende Verfahren fehlen in der Strafverfolgungsstatistik. "Dadurch haben wir gewissermaßen eine Lücke: Bei der Polizei sind es nur Tatverdächtige und bei den Verurteilten fehlen die Fälle, wo Verfahren eingestellt worden sind."

Da die Strafverfolgungsstatistik immer erst deutlich später veröffentlicht wird als die PKS, lässt sich der Unterschied in der Entwicklung nur bis zum Jahr 2022 nachvollziehen. Hier zeigt sich: Während in beiden Statistiken bis zum Jahr 2021 ein insgesamt kontinuierlicher Rückgang aller Straftaten zu erkennen ist, gehen die Entwicklungen für das Jahr 2022 auseinander.

Strafverfolgungsstatistik bestätigt Trend noch nicht

In der PKS wurde für das Jahr 2022 ein Anstieg der Straftaten auch über das Niveau der Vor-Pandemiejahre hinaus attestiert, in der Strafverfolgungsstatistik sank die Zahl hingegen weiter. Auch wenn man speziell auf Gewaltkriminalität schaut, zeigt sich in der Strafverfolgungsstatistik ein Rückgang. In der PKS gab es 2022 hingegen auch in dem Bereich einen deutlichen Anstieg und einen Höchststand seit 2010.

Für das Jahr 2023, das zumindest laut PKS einen weiteren Anstieg sowohl bei den Straftaten insgesamt als auch bei den Gewalttaten enthielt, liegen die Daten der Strafverfolgungsstatistik noch nicht vor.

Anzeigeverhalten für PKS mitentscheidend

Dass ein Anstieg der Straftaten in der PKS nicht automatisch auch mit einem tatsächlichen Anstieg der Kriminalität in Deutschland zusammenhängen muss, liegt laut Neubacher vor allem am Anzeigeverhalten. Denn der Großteil der in der PKS erfassten Straftaten geht auf Anzeigen von Privatpersonen zurück - nur ein Bruchteil kommt durch polizeiliche Kontroll- oder Beobachtungstätigkeit zustande. Das bedeutet, dass das Anzeigeverhalten quasi entscheidend dafür ist, welche und wie viele Straftaten in die PKS eingehen.

Daneben könne es zusätzlich auch zu Veränderungen im polizeilichen Kontroll- und Registrierungsverhalten gekommen sein. Belastbares gebe es hierzu gegenwärtig aber nicht. So kann es theoretisch sein, dass zum Beispiel ein starker Anstieg an gewissen Straftaten in der PKS auch einfach durch eine erhöhte Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung ausgelöst wurde, ohne dass die Zahl der Fälle wirklich gestiegen ist.

"Wissen zu wenig über Anzeigeverhalten"

"Das heißt, das Anzeigeverhalten ist eine ganz entscheidende Determinante und darüber wissen wir eigentlich viel zu wenig, insbesondere was die Entwicklung des Anzeigeverhaltens betrifft", sagt Neubacher. Es gebe Hinweise aus der Kriminologie, dass die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung generell zugenommen habe, vor allem im Bereich der Körperverletzung auch leichtere Delikte anzuzeigen.

Zudem ist die sogenannte Versuchsquote bei Gewaltkriminalität über die Jahre insgesamt gestiegen. Das bedeutet, dass unter den erfassten Straftaten auch mehr versuchte Fälle angezeigt worden sind als noch zu Beginn der 2000er-Jahre. Das könnte ebenfalls daraufhin deuten, dass die Anzeigebereitschaft insgesamt gestiegen ist.

Dunkelfeldstudie kommt nächstes Jahr

Um die Entwicklung der PKS zu überprüfen, wäre auch eine sogenannte Dunkelfelduntersuchung hilfreich. Denn die PKS sowie die Strafverfolgungsstatistik zeigen nur das sogenannte Hellfeld, also den Teil der Kriminalität, der durch Anzeigen bei Polizei oder Justiz bekannt ist und in Kriminal- oder Rechtspflegestatistiken abgebildet wird. Doch bei weitem nicht alle Verbrechen werden auch angezeigt. Bei Dunkelfelduntersuchungen wird daher versucht, das gesamte Ausmaß der Kriminalität zu erfassen.

In anderen Ländern wie den USA und Großbritannien gibt es solche Untersuchungen bereits lange. In Deutschland wurde 2020 im Rahmen der Befragung "Sicherheit und Kriminalität in Deutschland" (SKiD) erstmals eine bundesweite Opferbefragung durchgeführt, die seitdem regelmäßig in Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern durchgeführt werden soll. Da die Ergebnisse der Befragung aus dem Jahr 2024 allerdings noch nicht vorliegen, wird erst im kommenden Jahr zu sehen sein, ob und inwiefern sich die Kriminalität und auch die Anzeigebereitschaft in dem Zeitraum in Deutschland verändert hat.

Wie groß das Dunkelfeld in einigen Bereichen jedoch ist, zeigte bereits die Befragung aus dem Jahr 2020. Im Bereich der Cyberkriminalität wurden zum Beispiel nur 18 Prozent der Taten angezeigt, bei Sexualstraftaten sogar nur ein Prozent.

Ähnliche Entwicklung auch in anderen Ländern

Mit Blick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt sich auch in Österreich und der Schweiz eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland mit Blick auf den Anstieg der Straftaten in den vergangenen beiden Jahren. Und auch in England und Wales gab es einen Anstieg vor allem bei Raub und schwerer Körperverletzung - ähnlich wie in Deutschland. Allerdings zeigen die Dunkelfeldbefragungen aus Wales und England im Vergleich zu den Polizeilichen Kriminalstatistiken keinen Anstieg.

Daher plädiert Neubacher dafür, auch die aktuellen Zahlen in Deutschland noch nicht vorschnell auf einen tatsächlichen Anstieg der Kriminalität zurückzuführen. "Es gibt aktuell eine auffallende Entwicklung in der Polizeilichen Kriminalstatistik im Bereich der Gewaltkriminalität", sagt er. Diese müsse aufmerksam beobachtet und mit anderen Datenquellen abgeglichen werden.

Es bestehe aber kein Grund für Alarmismus. "Wir hatten schon ähnlich hohe Zahlen, auch in der Vergangenheit." Die Zahlen der PKS sollten nicht bagatellisiert oder weggeredet werden, so Neubacher. "Ich will nur sagen: Wir dürfen uns nicht allein auf die PKS verlassen. Damit wird auch Politik gemacht. Wir müssen die Politik weiter dazu auffordern, die Datenlage zur Kriminalitätsentwicklung zu verbessern."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 09. April 2024 um 14:00 Uhr.