Kundgebungen und Demonstrationen Warum die Teilnehmerzahlen oft auseinandergehen
Erst die Bauernproteste, dann die Demonstrationen gegen rechts: In den vergangenen Wochen gingen viele Menschen in Deutschland auf die Straße. Wie viele genau, da sind sich Veranstalter und Polizei meist uneinig.
100.000 Menschen waren nach Polizeiangaben vergangenes Wochenende in Berlin auf der Straße, um gegen rechts zu demonstrieren. Oder waren es sogar 350.000? Das behaupteten zumindest die Veranstalter des Protests. Auch in anderen Städten gingen die Zahlen zum Teil weit auseinander: In München waren es laut Polizei ebenfalls etwa 100.000 Menschen, laut Veranstalter 320.000. In Hamburg zählte die Polizei 50.000 Menschen, die Veranstalter 80.000.
Dass sich die Angaben zu den Teilnehmern einer Demonstration oder Kundgebung unterscheiden, ist kein neues Phänomen. Immer wieder gibt es Diskussionen darüber, wie viele Menschen denn nun wirklich auf der Straße waren. Erhoben werden die Zahlen in der Regel von der Polizei und von den Veranstaltern der Demonstration - einheitliche Vorgehensweisen gibt es dabei jedoch nicht.
"Oftmals werden die Zahlen mehr oder weniger aus dem Bauch heraus geschätzt, sowohl von der Polizei als auch von den Organisatoren", sagt Sebastian Haunss vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung. Dabei würden beispielsweise vergangene Veranstaltungen auf dem Gelände als Vergleichswerte herangezogen. "Der Aufwand, eine möglichst genaue Einschätzung der Teilnehmerzahl abzugeben, ist relativ hoch", sagt Haunss. Daher sei es entsprechend selten, dass so etwas durchgeführt werde.
Reihenzählung und Luftaufnahmen
Um die Menschen auf einer Demonstration zu zählen, können verschiedene Methoden angewandt werden - abhängig von der Größe und auch der Art des Protests. Bei kleineren Demonstrationen können die Menschen, die in einer Reihe nebeneinander laufen, gezählt werden. Anschließend wird die Anzahl der Reihen gezählt und mit der ersten Zahl multipliziert.
"Das ist prinzipiell keine blöde Idee", sagt Stephan Poppe vom Institut für Soziologie an der Universität Leipzig. "Aber das Problem ist, dass die Menschen nicht wie bei einer Armee in Reih und Glied laufen." Hinzu komme, dass es sich bei den Veranstaltungen am vergangenen Wochenende oftmals um Kundgebungen gehandelt habe. "Die Menschen laufen also nicht einfach an einem vorbei, um sie zählen zu können."
In solchen Fällen kann dann auf Luftaufnahmen zurückgegriffen werden, sagt Haunss. "Man weiß ziemlich genau, wie groß diese Plätze sind. Und dann kann man entweder vor Ort oder über Bilder schätzen, wie viele Personen auf einem Quadratmeter stehen und das dann hochrechnen." Auch hier gebe es Schwächen: Zum einen sei die Menschendichte nicht überall einheitlich auf einer Kundgebung. Außerdem sind auch Kundgebungen an einem Ort nicht statisch: Es kommen immer wieder neue Menschen dazu, andere gehen."
Professionell durchgeführt könne mit solchen Methoden die Teilnehmerzahl auf zehn bis 20 Prozent genau geschätzt werden, sagt Haunss. Auch Künstliche Intelligenz (KI) könnte künftig zum Einsatz kommen, um Luftaufnahmen auszuwerten und die Menschen zu zählen. Momentan werde das jedoch noch nicht angewandt.
Ist die Polizei eine neutrale Partei?
Dass es bei den Angaben zwischen Veranstalter und Polizei oft zu einer deutlich größeren Abweichung kommt, hängt nach Ansicht der Experten auch von anderen Faktoren ab. "Wir wissen, dass Veranstalter natürlich systematisches Interesse haben, die Veranstaltung groß zu schätzen", sagt Haunss. "Das ist ja der zentrale Punkt bei einer Demonstration, dass man mit einer großen Masse an Menschen auf die Straße geht."
Bei der Polizei hingegen gebe es aus Sicht von Haunss Gründe, Demonstrationen tendenziell eher kleiner zu schätzen. Denn die Polizei sei in ihrer Eigenwahrnehmung als auch in der Wahrnehmung der Demonstrierenden oft keine neutrale Partei. "Die Polizei wird oft als Gegner gesehen und die Polizei sieht auch die Demonstranten oft als Gegner. Aus dieser Position hat die Polizei auch ein Interesse daran, das Demonstrationsgeschehen kleiner darzustellen, als es tatsächlich ist."
Auch aus formaler Sicht könne es Gründe für die Polizei geben, die Teilnehmerzahl absichtlich zu niedrig zu schätzen. "Es kann zum Beispiel sein, dass die Polizei die Teilnehmerzahl geringer angibt, um nicht einzugestehen, möglicherweise mit zu wenig Beamten vor Ort gewesen zu sein."
Poppe hält diese These jedoch für diskussionswürdig. "Wenn die Polizei die Zahlen kleiner darstellen würde, um einen zu niedrigen Personalaufwand zu verschleiern, dann müsste sie ja umgekehrt auch manchmal die Zahlen größer darstellen, wenn sie zu viel Personal eingesetzt hat", sagt er.
Zudem könne von einer systematischen Untererfasssung der Polizei erst dann ausgegangen werden, wenn die echten Teilnehmerzahlen bekannt wären. "Wenn die Veranstalter die Zahlen systematisch zu hoch angeben, dann sind die polizeilichen Angaben bei der Vergleichszahl immer zu niedrig. Die polizeilichen Angaben, die wir überprüft haben, waren unsystematisch zu hoch oder zu niedrig. Eine Tendenz kann ich da nicht wirklich erkennen."
AfD-Demos in Erfurt als Forschungsgrundlage
Forschung zu dem Thema gibt es nur wenig. Gerade statistisch valide Ergebnisse sind nur unter hohem Aufwand zu erhalten, sagen die Experten. Es gibt daher vor allem einzelne stichprobenartige Erhebungen, von denen sich jedoch keine allgemeingültigen Aussagen schließen lassen.
Die Universität Leipzig hat sich beispielsweise im Jahr 2015 in Erfurt insgesamt acht AfD-Demos angeschaut und dabei die Zahlen der Polizei und der AfD mit eigenen Schätzungen verglichen. Während die AfD demnach jedes Mal deutlich über den Schätzungen der Wissenschaftler lag, waren die Zahlen der Polizei insgesamt deutlich näher dran. Eine Untererfassung lag demnach sogar nur zwei Mal leicht vor, während die Polizei fünf Mal mehr Teilnehmer schätzte als die Wissenschaftler.
Als Beleg reiche diese Untersuchung aufgrund der wenigen untersuchten Demonstrationen nicht aus, sagt Poppe. Hinzu komme, dass auch möglich sei, dass die Polizei sich bei den Schätzungen mehr Mühe gegeben haben könnte, da bekannt war, dass die Wissenschaftler ebenfalls zählen.
Genaue Schätzung kaum möglich
Insgesamt ist es aus Sicht von Poppe auch schlicht weg nicht möglich, die exakte Teilnehmerzahl zu ermitteln. "Die Frage lautet: Was zählt man eigentlich? Die gesamte Anzahl an Teilnehmern einer Demonstration? Oder beispielsweise die Anzahl an Menschen während eines bestimmten Zeitpunkts?"
Theoretisch sei es denkbar, dass in der ersten Stunde einer Demonstration 10.000 Menschen da sind. Dann gingen sie alle nach Hause und 10.000 neue Menschen kämen hinzu. "Dann hätten wir insgesamt 20.000 Teilnehmer gehabt. Aber zu keinem Zeitpunkt waren mehr als 10.000 Menschen da. Was ist dann die Teilnehmerzahl?"
Poppe plädiert daher dazu, anstatt einer genauen Zahl lieber eine mögliche Bandbreite an Teilnehmern anzugeben. "Bei einer präzisen Aussage ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich falsch liege. Wenn ich aber sage, auf einer Demonstration waren beispielsweise 14.000 bis 16.000 Menschen, dann trifft es vermutlich eher zu."
"Wichtige Form der Meinungsäußerung"
Auch wenn Schätzungen zu den Teilnehmern einer Demonstration immer mit einer gewissen Fehlerquote behaftet sind, fordern Poppe und Haunss dennoch eine möglichst genaue Zählung von der Polizei. "Demonstrationen stellen eine sehr wichtige Form der Meinungsäußerung dar. Und deswegen ist es auch relevant zu wissen, wie viele Menschen ein bestimmtes Anliegen unterstützen", sagt Poppe.
Das sieht auch Haunss so: "Demonstrationen sind das wichtigste Kommunikationsmittel von sozialen Bewegungen. Eine Demonstration mit 20.000 Teilnehmern macht mehr Eindruck und bekommt mehr Aufmerksamkeit als eine Petition, die von 150.000 Leuten unterschrieben wurde. Denn auf die Straße zu gehen - möglicherweise auch bei schlechtem Wetter oder bei einer Situation, wo man die körperliche Unversehrtheit aufs Spiel setzt - ist eine ganz besondere Form, für eine Sache einzustehen."