Anschläge vom 11. September 2001 Welche Rolle spielen Verschwörungsmythen zu 9/11 noch?
Zu den Jahrestagen von 9/11 kursieren auch nach 23 Jahren noch angebliche Beweise für verschwörungsideologische Erklärungen. Viele Theorien halten sich bis heute, auch wenn sie längst widerlegt sind.
"9/11-Verschwörung aufgedeckt", "Heute ist ein guter Tag, um zu erwähnen, dass 9/11 ein Insider-Job war", oder "Es wird Zeit, dass auch die 9/11-Lüge fällt!", heißt es am Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September in einschlägigen Telegram-Kanälen.
Auch auf X verbreitet sich seit Wochen ein knapp elf Millionen Mal aufgerufenes Video mit der Beschreibung: "New footage of 9/11 emerges after 23 years" - was zu deutsch so viel heißt wie: "Neues Filmmaterial zu 9/11 taucht nach 23 Jahren auf". Es soll neue Beweise dafür liefern, dass angeblich keine Flugzeuge in das World Trade Center geflogen wären. In einem anderen aktuell kursierenden Video erläutert ein Mann in US-amerikanischer Militärkleidung, dass die Gebäude nicht so zusammengebrochen sein könnten, wie offiziell angegeben.
Diese und unzählige weitere Verschwörungserzählungen zu 9/11 existieren bereits seit zahlreichen Jahren - viele davon sind kleinteilig und oftmals recht technisch. So ist eine der am weitesten verbreiteten Theorie, dass die Temperatur, mit der Flugzeug-Kerosin brennt, nicht ausreiche, um die Stahlträger des World Trade Centers zum Schmelzen zu bringen. Vermeintliche Experten verleihen Mutmaßungen wie diesen mit ihren "Fakten" Seriosität und vermitteln somit, dass sie Beweise dafür liefern könnten, was sich "wirklich" zugetragen habe.
9/11 besitzt weiterhin "große Strahlkraft"
"Die allermeisten Verschwörungsnarrationen zu 9/11 sind widerlegt. Da dieses Ereignis jedoch noch immer eine große Strahlkraft besitzt, ist es für das Milieu attraktiv, durch neue oder vermeintlich neue Informationen doch noch zu 'beweisen', dass es in seiner ursprünglichen Bewertung richtig gelegen habe", sagt Jan Rathje, Politikwissenschaftler und Senior Researcher des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). Letztlich gehe es hierbei um das Wiederherstellen einer Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit, die zum Kern von Ideologien gehörten.
"Es kann immer noch ein vermeintliches Beweisstück mehr gefunden werden, ein Puzzlestückchen, das hinzugefügt werden kann. Aber das verändert das eigentliche Narrativ nicht mehr", sagt auch Michael Butter, Amerikanist mit dem Forschungsschwerpunkt Verschwörungstheorien. In entsprechenden Communities sei es weit verbreitet, zu glauben, dass 9/11 nicht das Werk von islamistischen Terroristen war, sondern das Ergebnis einer Verschwörung, die bis heute nicht wirklich aufgedeckt und anerkannt wurde, so der Professor für Amerikanische Literatur und Kulturgeschichte der Universität Tübingen.
"Teil des verschwörungsideologischen Grundrauschens"
"Innerhalb verschwörungsideologischer Milieus gehören 9/11-Verschwörungsnarrationen zum Grundstock des geteilten Wissens", sagt Rathje. In den alltäglichen Diskursen des Milieus würden diese Ereignisse aber keine zentrale Rolle mehr spielen. "Die damit verbundenen Narrationen bilden vielmehr einen Teil des verschwörungsideologischen Grundrauschens."
Eine Ausnahme würden die Jahrestage der islamistischen Terroranschläge darstellen, in deren Umfeld Verschwörungsnarrationen zu 9/11 laut Rathje wesentlich stärker verbreitet werden. Das könne dazu dienen, Neumitgliedern des Milieus die historische Dimension der mutmaßlichen Weltverschwörung zu verdeutlichen, so Rathje.
Schwerste Terroranschläge der USA
Die Terroranschläge am 11. September 2001 waren ein einschneidendes Ereignis, welches weltweit für Betroffenheit gesorgt hat. Islamistische Terroristen entführten vier Flugzeuge und verübten die verheerendsten Anschläge der Geschichte der USA, bei denen fast 3.000 Menschen starben. Die Welt schaute erstmals live im Fernsehen dabei zu, wie verletzlich die Weltmacht USA an diesem Tag war. Die Live-Übertragung der Terroranschläge und ihrer unmittelbaren Folgen sorgten für eine Verstärkung der psychologischen Effekte, auf die Terrorismus abzielt.
"Die Anschläge hatten auch globale Auswirkungen mit dem sogenannten War on Terror der USA und anderer Nationen sowie einem stärkeren Fokus auf islamistischen Terrorismus, besonders bei Sicherheitsbehörden", sagt Rathje. 9/11 und die Folgen der Anschläge haben Rathje zufolge zu Verunsicherungen und Unruhe in globalen und nationalen Systemen geführt.
Wie bei vielen historisch relevanten Ereignissen, ob Mondlandung, Präsidentenmord oder Corona-Pandemie, verbreiteten sich auch zu 9/11 relativ schnell Zweifel an der "offiziellen" Version. Der Vorwurf, dass die genannten Täter nicht die wahren Urheber seien, erfolge bei terroristischen Anschlägen recht schnell aus verschwörungsideologischen Milieus, erläutert Rathje.
"Verschwörungsnarrative zu Terroranschlägen werden meistens als vermeintliche 'inside jobs', 'LIHOP'- (let it happen on purpose/es absichtlich geschehen lassen) oder False Flag-Operationen dargestellt, um das Feindbild zu erhalten und Widersprüche zu beseitigen. Innerhalb verschwörungsideologischer Milieus gelten die USA, als Symbole für Liberalismus und/oder Kapitalismus, als ein zentrales Feindbild", sagt der Politikwissenschaftler.
Keine Indizien für einen "inside job"
So schreiben Verschwörungsideologen die Verantwortung für 9/11 den USA und nicht den islamistischen Attentätern von Al-Qaida zu. Die Legende 9/11 sei ein "inside job" hält sich bis heute hartnäckig, auch wenn es nach Ansicht von Wissenschaftlern und der 9/11-Kommission hierfür keine Indizien gibt. Das Narrativ reicht von der Idee, dass kein Flugzeug aufs Pentagon gestürzt ist, bis zur Theorie, dass das World Trade Center eigentlich gar nicht angegriffen, sondern kontrolliert von innen gesprengt wurde.
Viele sogenannte Truther glauben, dass Mitglieder der US-Regierung die Anschläge bewusst geschehen ließen oder die Anschläge sogar selbst geplant hätten, um einen Vorwand zu schaffen, in Afghanistan und im Irak einzumarschieren.
Tatsächlich stellte sich die Begründung der US-Amerikaner für die Invasion des Iraks, Saddam Hussein sei im Besitz von Massenvernichtungswaffen, als falsch heraus und der Einmarsch der USA wird heute von vielen als Fehler betrachtet. Die mangelnde Informationspolitik und Lügen der Bush-Regierung machen sich Verschwörungsideologen in den Monaten und Jahren nach den Terroranschlägen zunutze und füllen vermeintliche oder tatsächliche Informationslücken mit verschwörungsideologischen Erklärungsansätzen.
"Verschwörungstheorien zu 9/11 waren zu Beginn vor allem eher eine Sache linker Milieus. Sie waren ein Mittel der Kritik an der Regierung Bush im Zuge der Invasion des Iraks ab 2003, weshalb sie dann auch erst wirklich eine gewisse Breitenwirkung entfaltet haben", sagt Butter. In Deutschland sei es vor allem um Anti-Amerikanismus gegangen, welchen es sowohl links als auch rechts gebe.
"Ein transnationales Phänomen"
Zu der historischen Tragweite der Anschläge vom 11. September reiht sich das Momentum ein, indem das Internet beginnt, groß zu werden. Das habe zu einer sehr großen Sichtbarkeit von Verschwörungsmythen auf beiden Seiten des Atlantiks geführt, führt Butter aus. So seien 9/11- Verschwörungstheorien von Anfang an "ein transnationales Phänomen" gewesen.
"In den Jahren nach den Anschlägen ist das Internet zu dem Ort geworden, wo Menschen, die meinen, erkannt zu haben, dass da was nicht stimmt, weltweit zusammenkommen, sich austauschen, diese Ideen teilen und sie teilweise miteinander weiter spinnen", sagt der Amerikanist.
Der Zugang zu diversen "alternativen" Erklärungsansätzen war auf einmal so leicht wie nie zuvor. Gerade auf Plattformen wie YouTube werden visuell anschaulich angeblich stichhaltige Beweise von vermeintlichen Experten in Dokumentationen präsentiert und verbreiten sich rasant.
"9/11 ist ein eindrucksvolles visuelles Ereignis und auch die Beweise für 9/11-Verschwörungstheorien funktionieren visuell sehr gut, so dass sie für viele heutige Mitglieder der verschwörungsideologischen Communities in den 2000er Jahren der Moment waren, wo ihnen klar wurde, da stimmt irgendwas nicht", sagt der Professor für Amerikanische Literatur und Kulturgeschichte. Unter anderem deshalb hätten Verschwörungstheorien zu 9/11 immer noch diese herausgehobene Rolle.
Einfallstor in verschwörungsideologische Milieus
Auch Rathje schätzt das ähnlich ein: "9/11 diente vor allem in der Zeit, als die damit verbundenen Ereignisse eine große gesellschaftliche Relevanz hatten, als Eintrittspunkt in verschwörungsideologische Milieus."
Im Laufe der Jahrzehnte wurde 9/11 als Einfallstor in ein verschwörungsideologisches Weltbild jedoch durch andere Ereignisse abgelöst, etwa durch die Asylkrise von 2015 oder die Corona-Pandemie seit 2020. Denn: "Gesellschaftliche Krisenereignisse befördern den Bedarf nach einfachen Erklärungen und Identitäten, die Verschwörungsideologien bieten", so Rathje.