Studie zu Demenzrisiko Ein Leben lang verfolgt vom 11. September
Viele Ersthelfer der 9/11-Anschläge in New York kämpfen mit gesundheitlichen Folgen. Eine Studie stimmt nun Forscher sprachlos: Das Demenzrisiko scheint deutlich erhöht. Hinter den Zahlen stecken persönliche Schicksale.
"Es ist hart. Ich vermisse ihn, aber wir schaffen es." Die New Yorkerin Patrice Tiffany spricht sich selbst Mut zu. Ihr Mann Michael leidet seit mehr als 14 Jahren an Demenz und lebt inzwischen in seiner ganz eigenen Welt. Der 76-Jährige erkennt niemanden mehr, ist inkontinent und spricht seit fast einem Jahr auch nicht mehr. Am Tag der Anschläge vom 11. September 2001 war er Drogenfahnder bei der Polizei.
Als Terroristen das erste Flugzeug ins World Trade Center lenkten, eilte er mit seinen Kollegen runter ins südliche Manhattan und erlebte den Einsturz der Zwillingstürme mit. Der Kollaps sowie Brände pulverisierten Stahl, Chemikalien, Alltagsgegenstände - und menschliche Körper. Ein hochgiftiger Staub legte sich über alles und schuf eine apokalyptische Szenerie.
Jeder, der nach den Anschlägen des 11. September 2001 Ground Zero betrat, um zu helfen, lief Gefahr, giftige Dämpfe einzuatmen - vielen wurde das erst viel später klar.
Erschöpft und ohne Worte für das Erlebte
Patrice beschreibt ihren Mann eigentlich als klug und lebenslustig. Aber sie weiß noch genau, wie er heute vor 23 Jahren irgendwann zu ihr und den fünf Kindern nach Hause kam: total erschöpft, ohne Worte für das Erlebte, bei dem 2.763 Männer und Frauen starben. Es sei verstörend gewesen, erzählt sie.
"Er zog sich aus und ich saß da mit den Schuhen, die voller Staub waren." Patrice hätte mit ihrem Finger über den Schuh gewischt und gesagt: "Ich frage mich, was das ist - oder wer das ist."
In den folgenden Wochen arbeitete ihr Mann damals am zerstörten World Trade Center oder dort, wo der ganze Schutt hingebracht wurde. Inzwischen ist längst anerkannt, dass der Staub massive gesundheitliche Spätfolgen für die 400.000 Ersthelfer haben kann. Milliardenschwere Fonds übernehmen Behandlungskosten unter anderem für Traumata, Atemwegserkrankungen und Dutzende Krebsarten.
Demenz noch nicht als Spätfolge anerkannt
Michael bekommt finanzielle Hilfe wegen seines Prostatakrebs. Demenz ist aber noch keine anerkannte Spätfolge. Jüngste Studien lassen aber darauf hoffen. "Wir sind ziemlich sicher, dass es einen starken Zusammenhang zwischen der Exposition mit dem Staub und der Verkümmerung im Gehirn gibt", erklärt Sean Clouston von der Stony Brook Universität.
Der Mediziner erforscht seit Jahren Veränderungen im Gehirn. Erst kürzlich hat er die Ergebnisse einer Studie mit 5.000 Ersthelfern, die zum Auftakt 60 Jahre und jünger waren, veröffentlicht. Das Ergebnis: 4,6 Prozent von ihnen entwickelten innerhalb von fünf Jahren eine frühe Demenz, das sind überdurchschnittlich viele. In der Allgemeinbevölkerung liegt die Wahrscheinlichkeit dafür bei 0,5 Prozent.
Feuerwehrleute vor den Trümmern des World Trade Centers.
Forscher waren sprachlos über Ergebnisse
"Es sind vier bis fünf Mal so viele Fälle, wie ich als Experte auf diesem Gebiet erwartet hatte. Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet", sagt Clouston. Die Forscher seien sprachlos gewesen - und hätten ihre Studie wiederholt überprüft, um sicher zu sein, dass es keine Fehler gab.
Schutzanzug und Maske trugen nur die wenigsten Ersthelfer. Wenn sie dem Staub besonders intensiv ausgesetzt waren, ist ihr Risiko einer frühen Demenz sogar 42 Mal höher.
"Unser jüngster Patient ist Mitte 40. Das ist 20, 30, 40 Jahre zu früh", führt der Mediziner aus. Andere Menschen in diesem Alter würden sich mit Haus und Kindern beschäftigen - und nicht damit, wie sie im Alter zurechtkommen.
Hoffen auf schnelles Verfahren der Anerkennung
In diesen Fällen kommen die Symptome auch noch gleichzeitig. 2001 hätte keiner das Ausmaß absehen können, meint Clouston. Aber jetzt müsse Demenz als Spätfolge anerkannt werden, appelliert er. Entsprechende Papiere dafür stellt der Mediziner gerade zusammen. Er hofft, wie alle Opfer-Organisationen, auf ein schnelles Verfahren.
Auch Patrice Tiffany baut darauf. Mit ihren 73 Jahren pflegt sie ihren Mann noch allein, geht täglich mit ihm spazieren. Stundenweise leistet sie sich eine Entlastung. Aber lange gehe es wohl nicht mehr ohne professionelle Pflegekräfte, meint sie.
Nach 52 Ehejahren versucht die ehemalige Mathematikprofessorin alles, um mit ihrem Mann in Kontakt zu bleiben: Sie zeigt ihm Fotos, spielt seine Lieblingsmusik aus den 60er-Jahren. Am Ende ihres ersten Interviews überhaupt verrät sie mit stockender Stimme: "Wenn er abends ins Bett geht, sage ich immer: 'Ich liebe dich, wo immer du bist.'" Seine Antwort sei immer "Team". Und solange sie diese Antwort höre, habe sie das Gefühl, das er etwas versteht.