Streit über Familiennachzug Kaum Zahlen, wenig Zeit
Bei der Regierungsbildung bleibt der Familiennachzug ein Hauptstreitpunkt. Die CSU warnt vor "massiver Zuwanderung", die SPD kritisiert die Nennung von Zahlen aus dem "Bauchgefühl" heraus. Tatsächlich fehlen belastbare Zahlen - und die Zeit für eine Einigung drängt.
Bereits seit Monaten wird über den Familiennachzug für Flüchtlinge gestritten. Auch auf dem Weg zu seiner möglichen neuen Großen Koalition diskutieren Union und SPD kontrovers darüber, ob der Nachzug über 2018 hinaus ausgesetzt bleiben soll. Bislang ist allerdings vollkommen unklar, wie viele enge Verwandte nach Deutschland nachgeholt werden könnten, sollte die bestehende Regelung nach zwei Jahren Laufzeit im März 2018 auslaufen: Bis dahin ist der Familiennachzug für Flüchtlinge mit beschränktem (subsidiärem) Schutzstatus unterbunden.
"Massive Zuwanderung"
Während die CDU bei den Jamaika-Sondierungen den Grünen noch ein Entgegenkommen signalisierte, legte die CSU vor möglichen Gesprächen mit der SPD über eine Große Koalition die Latte höher: Parteichef Horst Seehofer sagte der "Bild"-Zeitung, er könne sich keine Einigung vorstellen, wenn dafür der Familiennachzug für Flüchtlinge mit beschränktem Schutz möglich würde. Seehofer warnte: "Das wäre wieder eine so massive Zuwanderung, dass die Integrationsfähigkeit Deutschlands total überfordert wäre."
CSU-Chef Seehofer warnte vor einer "massiven Zuwanderung" durch Familiennachzug.
Auch der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, warnte die SPD vor überzogenen Bedingungen - beispielsweise beim Familiennachzug. Kurz zuvor hatte der SPD-Parteivorstand den Familiennachzug zu einer Kernforderung für "ergebnisoffene Gespräche" mit der Union erklärt.
Özoguz warnt vor Zahlen aus Bauchgefühl heraus
Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoguz warnte im Deutschlandfunk vor Zahlen, die aus einem "Bauchgefühl heraus" genannt würden:
Das Thema Familiennachzug gibt es wirklich nicht her, daraus nun Koalitionsscharmützel zu betreiben.
Faktisch sei es so, dass in Deutschland auch Familien lebten, die niemanden nachholen werden. Zudem hätten Minderjährige fast gar keine Chance, noch jemanden zu holen.
Belastbare Zahlen fehlen
Belastbare Zahlen zum erwarteten Familiennachzug fehlen in der Debatte weiterhin. Diskutiert werden mehr oder weniger seriöse Prognosen. Diese schwanken zwischen mehreren Zehntausend und sieben Millionen Menschen.
Das Auswärtige Amt Mitte bestätigte erst im November, es fehlten auch nachhaltig belegbare Zahlen, wie viele Familienangehörige im Schnitt zu einem in Deutschland anerkannten Schutzberechtigten nachziehen:
Insofern können wir auch keine Prognose hinsichtlich des zu erwartenden Familiennachzugs erteilen.
Relevant im Zusammenhang mit Flüchtlingen mit beschränktem Schutz in Deutschland sind vor allem Anträge von Syrern und Irakern: Wie das Auswärtige Amt mitteilte, bemühten sich bis dahin rund 70.000 Syrer und Iraker um einen Familiennachzug nach Deutschland. Entsprechende Anträge lagen demnach bei den zuständigen Botschaften in Beirut, Amman, Erbil, Ankara, Istanbul und Izmir vor. Auf Basis der Terminbuchungen und bisheriger Werte schätzte das Ministerium, dass bis 2018 etwa 100.000 bis 200.000 hinzukommen könnten.
IAB nennt relativ niedrige Zahlen
Auf ähnliche Zahlen kommt eine Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Demnach gibt es schätzungsweise 100.000 bis 120.000 Ehepartner und minderjährige Kinder, die durch einen Familiennachzug einreisen könnten. Unter anderem erklärt das IAB die Zahlen mit der Alters- und Familienstruktur der Geflüchteten. Nur 46 Prozent der erwachsenen Geflüchteten sind verheiratet und nur 43 Prozent haben Kinder, heißt es in der Studie zum Familiennachzug. Das Bundesinnenministerium warf wiederum dem IAB vor, die Studie habe methodische Schwächen. Unklar blieb aber, welche Auswirkungen diese Mängel für die in der Studie genannten Zahlen habe.
Das Bundesinnenministerium betonte, es existierten keine nachhaltig belegbaren Zahlen. Nachzugsfaktoren könnten auch nicht mit der Zahl der erteilten Visa begründet werden, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftlichen Anfrage der Grünen-Abgeordneten Franziska Brantner.
Zwei oder bis zu sieben Millionen?
Obwohl also keine belastbaren Zahlen vorliegen, kursieren weiter Spekulationen in der Debatte: So sprach Unions-Fraktionschef Volker Kauder in der "Passauer Neuen Presse" zuletzt von "noch einmal 300.000 Personen, die solche Anträge stellen könnten". Bundesinnenminister Thomas de Maiziere hatte im Sommer von einer "gewaltigen Zahl" gesprochen, die durch den Familiennachzug nachgeholt werden könnten.
Im Wahlkampf verbreitete die AfD hohe Zahlen von Flüchtlingen, die mutmaßlich nach Deutschland kämen, sollte die Sperre für den Familiennachzug enden. So teilten AfD-Politiker bei Facebook und Twitter ein Bild mit folgender Behauptung: "Familiennachzug - Weitere 2 Millionen Migranten ab 2018".
Dabei bezogen sich die AfD-Politiker auf die Zahl von 390.000 Syrern, die ein Anrecht auf Familiennachzug haben sollen. Die AfD nahm bei zwei Millionen "Migranten" an, dass pro berechtigten Syrer fünf Familienmitglieder nachgeholt würden. Als Quelle verweisen die AfD-Politiker auf einen Artikel der "Bild"-Zeitung.
In dem betreffenden Artikel berief sich die "Bild" auf Regierungsinformationen. Auf Nachfrage des ARD-faktenfinders konnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die in der "Bild" genannten Zahlen jedoch nicht bestätigen.
Im Jahr 2015 hatten die Schätzungen sogar noch weit höher gelegen. So hatte die "Bild" gemeldet, dass aus geschätzt 920.000 Asylbewerbern "durch Familiennachzug bis zu 7,36 Millionen Asylberechtigte werden" könnten.
Union und FDP unter Zeitdruck
Klar ist lediglich, dass für die Union die Zeit drängt. Denn der Nachzug ist bis März ausgesetzt - und noch ist keine neue Regierung in Sicht. Innenminister de Maizière will sich daher mit der SPD noch vor Abschluss von möglichen schwarz-roten Koalitionsverhandlungen einigen. In einem "etwas fortgeschrittenen Verfahren der Gespräche mit der Sozialdemokratie" solle über parlamentarische Initiativen rund um das Thema Familiennachzug gesprochen werden.
Auch die FDP plant eine fraktionsübergreifende Initiative. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, seine Partei habe das Thema aber vorerst zurückgestellt, weil man eine Mehrheit jenseits der AfD anpeile. "Wir sind deshalb in engem Austausch mit der Union, die aber noch keine gemeinsame Position mit den Grünen erreichen konnte", erklärte Lindner.