EU-Türkei-Flaggen

EU-Türkei-Verhandlungen Wo sind die Problemzonen?

Stand: 08.09.2017 21:39 Uhr

Es ist ein Dauerthema mit hohem Konfliktpotenzial: die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Abgebrochen wurden sie bisher nicht, voran geht es aber auch nicht. Der türkische Präsident gibt der EU die Schuld - Vertreter der EU sehen dies anders.

Von Kristin Becker, SWR & Holger Romann, ARD-Studio Brüssel

Eine der wenigen Überraschungen beim TV-Duell zwischen dem SPD-Kanzlerkandidaten und Angela Merkel war Martin Schulz deutliche Forderung des Abbruchs der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Der türkische Präsident Erdogan behauptete daraufhin diese Woche, sein Land halte die Abmachungen in Sachen Beitrittskandidatur ein, die EU hingegen nicht: 

Wir haben alle unsere Aufgaben als Beitrittskandidat erfüllt und machen das auch weiterhin. Die EU hingegen hat ihre Versprechen uns gegenüber nicht gehalten und uns sogar noch Vorwürfe gemacht, das ist nicht akzeptabel. Auch die Visa-Erleichterungen wurden nicht eingehalten. Inzwischen hat man sogar irgendwelchen südamerikanischen Ländern die Visabestimmungen erleichtert – und die Türkei wartet immer noch.

EU-Außenminister beraten über Beitrittsgespräche mit der Türkei

Katharina Willinger, ARD Istanbul, morgenmagazin

Allerdings sieht es in der Realität doch etwas anders aus.

Nur ein Kapitel erledigt

Die Türkei ist seit 1999 Beitrittskandidat. Seit 2005 gibt es offizielle Beitrittsverhandlungen. Das bedeutet, dass das Land die eigenen Regeln den EU-Vorgaben anpassen muss. Insgesamt gibt es 35 sogenannte Kapitel zu unterschiedlichen Politikbereichen aus Wirtschaft, Justiz, Kultur, Umwelt etc., die ein Beitrittskandidat "abarbeiten" muss. Bevor ein Kapitel überhaupt angegangen wird, gibt es ein erstes Screening, bei dem die EU-Kommission prüft, ob eine Angleichung der Landesregeln zum aktuellen Zeitpunkt klappen kann.

Im Fall der Türkei wurden bisher 16 dieser Kapitel eröffnet, nur ein einziges - "Wissenschaft und Forschung" - wurde bisher abgeschlossen. Die anderen wurden noch nicht einmal eröffnet oder sind aufgeschoben, weil ein oder mehrere Mitgliedsstaaten Einwände haben oder zu geringe Erfolgsaussichten bestehen.

Zypern blockiert, die Türkei aber auch

Beispielhaft ist dabei Zypern, das per Vetorecht bestimmte Themen blockiert. Aber auch die Türkei stellt sich quer. Sie erkennt die Republik Zypern als Staat nicht an. Der Nordteil der Insel wurde 1974 von türkischen Truppen besetzt. Seitdem ist die Insel geteilt. Aus Diplomatenkreisen in Brüssel heißt es, in den Verhandlungen gebe es acht schwierige Kapitel mit "Zypern-Bezug", das heißt, hier weigere sich Ankara schlicht, die Regeln der Zollunion auch im Umgang mit dem EU-Mitglied Zypern zu befolgen. Dessen Zugang zu türkischen Häfen und Flughäfen will das Land ebenfalls nicht zulassen. Dieser Konflikt behindert in wichtigen Teilen die Verhandlungen.

Probleme und Verzögerungen gibt es aber auch in anderen Bereichen. Immer wieder hat die EU-Kommission rasche Reformen angemahnt insbesondere mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte; auch der Minderheitenschutz ist ein Dauerthema. Außerdem verlangt sie in sensiblen Bereichen, wie "Justiz und Grundrechte" und "Justiz, Freiheit, Sicherheit" (Kapitel 23 und 24) sogenannte Benchmarks, das sind Aktionspläne, in denen eine Regierung genau darlegt, wie sie nötige Veränderungen umsetzen will. Und da hakt es offenbar.

Dass es auf Seiten der Türkei nicht voran geht, wird auch aus dem Fortschrittsbericht ersichtlich, den die EU einmal im Jahr erstellt. Dieser prüft, wie sich die Verhandlungen mit einem Beitrittskandidaten entwickeln. 2016 bescheinigte der zuständige EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn dem Land gravierende Rückschritte; besonders in den Bereichen Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und Menschenrechte.

Visa-Erleichterungen stocken

Beim Thema Visa-Liberalisierung geht es tatsächlich derzeit nicht voran. Auf Wunsch der EU muss die Türkei insgesamt 72 Bedingungen erfüllen, damit die Visapflicht aufgehoben wird. Unter anderem geht es um bestimmte Anforderungen an Grenzkontrollen, das Asylrecht oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Nicht zuletzt müsste die Regierung Erdogan ihre umstrittenen Terrorgesetze den EU-Standards anpassen. Sie ermöglichten es den türkischen Behörden "willkürlich" gegen Regierungskritiker vorzugehen und die Meinungsfreiheit einzuschränken, heißt es im Fortschrittsbericht.

Worauf Präsident Erdogan mit den nicht eingelösten Versprechen der EU anspielt: ursprünglich hatten EU und Türkei im Rahmen des Flüchtlingsabkommens vom März 2016 vereinbart, den Visumszwang für türkische Staatsbürger zügig abzubauen. Das ist bisher - aus den genannten Gründen - nicht geschehen. Recht hat Erdogan mit seinem Verweis auf südamerikanische Länder. So dürfen beispielsweise Kolumbianer oder Peruner für Kurzaufenthalte seit Ende 2015 beziehungsweise 2016 ohne Visum in die Schengen-Zone einreisen.

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan

EU-Geld für die Türkei

Wie jeder Beitrittskandidat erhält auch die Türkei von der EU finanzielle Unterstützung. Dabei handelt es sich um die sogenannte "Heranführungshilfen" oder "Vorbeitrittshilfen". Das Geld soll die Anpassung an EU-Standards erleichtern. Die Hilfen werden für konkrete Projekte vergeben und sind an Bedingungen geknüpft. Rund vier Milliarden Euro sind zwischen 2007 und 2013 schon geflossen. Im laufenden Finanzzeitraum von 2014 bis 2020 sind 4,45 Milliarden Euro eingeplant. Vor dem Hintergrund der wachsenden Spannungen mit Ankara sind davon bisher aber nur gut 190 Millionen Euro ausgezahlt worden.

Wegen des massiven Vorgehens Ankaras gegen Regierungskritiker und Journalisten sind in der EU die Forderungen laut geworden, die Finanzhilfen einzustellen oder auf Eis zu legen. Erweiterungskommissar Hahn sieht dazu derzeit keine Handhabe. Solange die Beitrittsverhandlungen mit Ankara nicht insgesamt unter- oder abgebrochen würden, "gibt es eben diese Zahlungen", so Hahn. Die EU hält sich also durchaus an getroffene Abmachungen.

Johannes Hahn, EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen

EU-Beitrittskommissar Johannes Hahn

Die rote Linie

Grundsätzlich aber könnte sich die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei womöglich ohnehin bald erledigt haben. Sollte das Land, wie von Präsident Erdogan mehrfach in Aussicht gestellt, tatsächlich die Todesstrafe wieder einführen, wäre für die Europäische Union die rote Linie erreicht. Dann könnte das Land nicht mehr EU-Mitglied werden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die Deutsche Welle in der Sendung "Fokus Europa" am 17. Februar 2016. Zudem berichtete über dieses Thema das Erste in der Sendung "Das TV-Duell" am 03. September 2017 um 20:15 Uhr und die tagesschau am 04. September 2017 um 20:00 Uhr sowie das ARD-Morgenmagazin am 08. September 2017 um 05:39 Uhr und die tagesthemen um 21:45 Uhr.