Eine elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt das Coronavirus SARS-CoV-2.
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Dokumentation zu Virusherkunft Kaum Belege für Labortheorie

Stand: 19.02.2021 16:58 Uhr

Ist die Corona-Pandemie Folge eines Laborunfalls im chinesischen Wuhan? Ein Hamburger Physiker behauptet dies in einer Dokumentation, die für harsche Kritik sorgt. Er wirft aber wichtige Fragen zur Forschung mit Viren auf.

Von Andrej Reisin, NDR, Wulf Rohwedder und Silvia Stöber, tagesschau.de

Ziel sei eine breit angelegte Diskussion - mit diesem Argument verbreitete die Universität Hamburg eine Pressemitteilung zu einer Dokumentation des Physikers Roland Wiesendanger, in der er sich mit der Herkunft des Corona-Virus beschäftigt. Auf Basis von Indizien sei er zu dem Schluss gekommen, dass die Pandemie auf einen Labor-Unfall in der chinesischen Stadt Wuhan zurückgeht.

Der Professor scheint seit Langem kursierende Vermutungen wissenschaftlich zu bestätigen. Doch nicht das Ergebnis steht nun im Mittelpunkt, stattdessen löste die Pressemitteilung eine Debatte über die Qualität seiner Arbeit aus. So distanzierten sich Studierende der Universität Hamburg und der Studierendenausschuss von der Veröffentlichung. Sie entspreche nicht den wissenschaftlichen Standards, die von einer Universität erwartet würden.

Ungewöhnliches Vorgehen

Für die Vorwürfe sprechen einige Aspekte der Dokumentation. Wiesendanger schrieb seine Arbeit offenbar im Alleingang, auch wenn er sich als Leiter bezeichnet - weitere Autoren nennt er nicht. Bisher wurde sie ausschließlich auf einem Server veröffentlicht, auf den jeder Texte hochladen kann und auf dem keinerlei Qualitätskontrolle stattfindet. Ein sogenanntes "Peer Review", bei dem andere Wissenschaftler der betreffenden Fachrichtung eine Publikation auf ihre Qualität prüfen, fand demnach nicht statt.

Wiesendanger betrieb für seinen Text auch keine eigene Forschung. Er wertete lediglich andere Arbeiten aus, was bei naturwissenschaftlichen Studien eher unüblich ist. Dabei bediente er sich, wie er selbst schreibt, einer ungewöhnlichen Herangehensweise: Neben interdisziplinärer sowie fachspezifisch wissenschaftlicher Literatur habe er weitere Dokumente verwendet. Dazu zählen "wissenschaftliche Literatur ohne wissenschaftliche Begutachtung, Briefe, Korrespondenz und Kommentare publiziert in der wissenschaftlichen Literatur sowie Artikel in Print- und Online-Medien". Weiterhin nennt Wiesendanger Berichte im Internet und sozialen Medien sowie persönliche Kommunikation mit internationalen Kollegen.

Selektive und teils obskure Quellen

Kriterien für seine Auswahl nennt Wiesendanger nicht. Zu seinen Quellen zählen die für Verschwörungsmythen und Falschmeldungen berüchtigte "Epoch Times", die eng mit der religiösen Bewegung Falun Gong assoziiert ist und deren Anhänger von China politisch verfolgt werden. Hinzu kommen auch eine anonyme Aktivistenseite, ein australisches Boulevardblatt, eine bereits in seinem eigenen Literaturverzeichnis als zurückgezogen gekennzeichnete Studie sowie die Behauptungen des "Biowaffenexperten" Francis Boyle, eines Juristen ohne naturwissenschaftliche Ausbildung. Die Quellen mit höchst unterschiedlicher Qualität kennzeichnet er zwar durch verschiedene Nummerierungen, verwendet die Referenzen in seinem Text aber weitgehend gleichberechtigt.

Neuere Forschungsergebnisse ignoriert

Auch zitiert er eine Studie der chinesischen Virologin Li-Meng Yan und merkt an, dass diese "von mehreren Virologen heftig kritisiert" werde, verzichtet aber darauf, auf die wissenschaftlichen Entgegnungen einzugehen, die Yans Thesen einordnen. Ähnlich geht er bei den Behauptungen des französischen Virologen Luc Montaigner vor, laut denen die Corona-Pandemie durch einen Laborunfall in Wuhan ausgelöst wurde. Dazu schreibt Wiesendanger:

Die Reaktion auf diese Äußerung des französischen Nobelpreisträgers waren keine wissenschaftlichen Argumente der Gegenseite, sondern ausschließlich diffamierende Kommentare, die sich entweder auf das Alter von Montagnier bezogen [IV.29] oder in die Richtung zielten, dass der Nobelpreisträger mittlerweile "umstritten" wäre [IV.30].

Dass es durchaus dezidierte wissenschaftliche Widerlegungen zu Montagniers Thesen gibt, erwähnt er nicht. Trotzdem nimmt er für dessen Arbeit in Anspruch, dass sie "angesichts der Bedeutung der Thematik faktenbasiert" informiere.

Universität verteidigt Vorgehen

Claudia Sewig, Pressesprecherin der Universität Hamburg erklärt dem ARD-faktenfinder, dass sich die "Universitätsleitung nicht zu den Inhalten der wissenschaftlichen Forschung Ihrer Wissenschaftler/innen äußere". Als öffentliche Einrichtung sei die Universität Hamburg dazu verpflichtet, diese nicht inhaltlich zu bewerten, sondern diese "für den Austausch und die Diskussion in der Fachcommunity oder Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen".

Dass ausgerechnet die Dokumentation des fachfremden Wiesendangers mit einer eigenen Pressemitteilung der Universität gewürdigt wurde, begründet Sewig damit, dass "ihr Inhalt von öffentlichem Interesse sei." Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin habe zudem gemäß der Wissenschaftsfreiheit und der Freiheit der Lehre "das Recht, unabhängig von ihrer/seinem Fachgebiet Forschung zu betreiben und die gewonnenen Erkenntnisse zu veröffentlichen".

Die Hamburger Wissenschaftsbehörde ging dagegen vorsichtig auf Distanz zu der umstrittenen Untersuchung: "Wissenschaftsfreiheit ist ein unverrückbares Gut", sagte Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) am Freitag. "Gleichwohl gilt für alle Form wissenschaftlicher Forschung, dass bei unklarer oder unsicherer Datenlage Zurückhaltung in der Bewertung angebracht ist."

Experimente mit Viren

Wiesendanger wählt seine Quellen einseitig aus, zahlreiche Studien referiert er nicht, die sich gegen die These eines aus dem Labor entsprungenen Virus wenden. Dennoch enthält seine Sammlung auch viele seriöse Quellen wie führende wissenschaftliche Periodika, so den "Lancet" und "Science". Das Hauptaugenmerk seiner Kritik und seine Quellen richten sich dabei auf "Gain of function"-Experimente. Dabei werden Viren im Labor verändert, so dass sie neue Eigenschaften entwickeln.

So wurden in Wuhan zum Beispiel Coronaviren von Fledermäusen so manipuliert, dass sie an den ACE2-Rezeptor menschlicher Zellen andocken können. Unter anderem diese Eigenschaft besitzt nun auch das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2. Für Wiesendanger ist das ein starkes Indiz dafür, dass es sich um ein durch einen Unfall aus einem Labor entsprungenes Virus handeln könnte.

Im Gespräch mit tagesschau.de betonte Wiesendanger, dass er diese Forschung für sehr gefährlich halte. Auch zahlreiche Virologen und andere Wissenschaftler hätten sich in der Vergangenheit dagegen ausgesprochen, was er auch dokumentiert habe. Aus seiner Sicht haben derartige Experimente jegliche Legitimation verloren, denn entweder hätten sie in keiner Weise geholfen, die aktuelle Pandemie zu vermeiden - oder sie hätten sie sogar herbeigeführt.

Die meisten publizierten Studien beschreiben jedoch, dass die diversen Eigenschaften von Sars-CoV-2, seine Genom- und Oberflächenstruktur für eine natürliche Evolution des Virus sprechen. Allerdings sind Ursprung und auch Zwischenwirte, die den Übersprung von Fledermäusen oder anderen Tieren auf den Menschen ermöglicht haben, bis heute nicht gefunden. Wiesendanger weist daraufhin, dass das Auffinden dieser Zwischenwirte bei den bisherigen Ausbrüchen der Atemwegssyndrome Sars und Mers, die durch Coronaviren verursacht wurden, deutlich schneller gelang.

Fehlende Daten aus China

Die WHO verfolgt nach eigenen Angaben nach wie vor alle Hypothesen zum Coronavirus-Ursprung. Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus widersprach kürzlich der Darstellung des Leiters einer WHO-Mission nach China, Peter Ben Embarek. Dieser hatte in Wuhan gesagt, die Mission empfehle keine weiteren Untersuchungen zu der These, wonach die Pandemie durch einen Zwischenfall in einem Labor ausgelöst worden sein könnte. Wiesendanger kritisiert in diesem Zusammenhang, dass China nicht alle Daten zur Verfügung gestellt habe, vor allem zu den ersten bekannten Covid-19-Patienten vom Dezember 2019 und in den Monaten davor.

Auch der RKI-Zoonosen-Experte Fabian Leendertz vom Robert Koch-Institut hatte bemängelt, es gebe noch viele offene Fragen, aber zu wenig Daten. "Ich wünsche mir, dass jetzt wirklich konkret diese Datenlücken gefüllt werden", so Leendertz. "Wir sind momentan am Limit der Diskussion und der Entwicklung der Szenarien, weil die Daten einfach nicht mehr hergeben." Für ihre Geheimniskrämerei rund um die Entstehung von Covid-19 und das belegte Streuen von Desinformationen wird die chinesische Regierung bereits länger kritisiert. Einen konkreten Anhaltspunkt für einen Labor-Ursprung der Krankheit liefert diese Kritik indes nicht.

Die Aufklärung, wo das Virus herkommt und wie es auf den Menschen übertragen wurde, spielt über die aktuelle Pandemie hinaus eine wichtige Rolle: Es geht auch darum, künftige Ausbrüche zu verhindern. Dies erfordert jedoch eine seriöse, transparente und unabhängige Ursachenforschung.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version haben wir die Dokumentation als "Studie" bezeichnet. Da die Publikation formalen wissenschaftlichen Anforderungen aber nicht genügt, haben wir uns entschlossen, den Begriff zu ändern.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 19. Februar 2021 um 16:18 Uhr.