Aufstand vor 30 Jahren Was geschah auf dem Tiananmen-Platz?

Stand: 07.10.2019 04:30 Uhr

Die Bilder von Panzern in Peking am 4. Juni 1989 sind weltweit bekannt. Doch was geschah an jenem Tag in Chinas Hauptstadt und gab es ein Massaker auf dem Tiananmen-Platz?

Von Silvia Stöber, tagesschau.de

30 Jahre ist die gewalttätige Niederschlagung des Volksaufstands in China her. Wie ein Echo hallen heute damalige Aussagen der kommunistischen Führung Chinas und Verbündeter wie der DDR durchs Internet.

Da ist von "Fake-Massaker" die Rede. Es habe keine Toten gegeben auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tiananmen-Platz. Die Soldaten der Volksbefreiungsarmee hätten sich lediglich gewehrt. Die Hunderttausenden Menschen in Peking und darüber hinaus, die sich während sieben Wochen an Protesten beteiligten, werden als willige Vollstrecker eines Umsturzplans ausländischer Kräfte - der USA - beschrieben.

Ganz ähnlich klang es 1989. Die kommunistische Führung sprach von "kriminellen Elementen" und "konterrevolutionärem Aufruhr" einer kleinen Gruppe von Menschen, die mit feindlich gesinnten ausländischen Kräften agiert hätten. Das Militär sei sehr zurückhaltend vorgegangen. Die Armee habe Tote und Verletzte aufgrund von Gewalt zu beklagen, provoziert von "Randalierern". Ein Massaker habe es nicht gegeben.

Kritik an Berichterstattung

Daneben gab es in den vergangenen Jahren Aussagen kritischer Beobachter wie des "Washington Post"-Reporters Jay Mathews oder der Menschenrechtsexperten George Black und Robin Munro. Durch falsche und ungenaue Berichte über die Ereignisse damals werde der Behauptung der chinesischen Führung Vorschub geleistet, es würden Lügen verbreitet.

Sie kritisieren, dass sich westliche Medien zu sehr auf die Aktionen der Studenten konzentriert hätten. Zu wenig beachtet worden seien die aufständischen Arbeiter, die in jenen Tagen auch Gewerkschaftsorganisationen gründeten. Davor habe sich die chinesische Führung mehr gefürchtet als vor den Studenten. Deshalb sei die Armee mit großer Brutalität gegen diese Arbeiter außerhalb des Platzes vorgegangen.

Aufstand China Tiananmenplatz

Der Tiananmen-Platz war das Zentrum der Protestbewegung. Demonstrationen fanden weit darüber hinaus statt. (Hier ein Bild vom 17. Mai 1989)

Falsche Darstellung bei britischem Historiker

Mit der Kritik gemeint sind Aussagen wie diese: Es "waren im Fernsehen Bilder von Panzern zu sehen, die auf den Tiananmen-Platz in Peking rollten, wo Hunderte von für Demokratie demonstrierende Studierenden von Soldaten niedergemäht wurden." Dies schreibt der britische Historiker Ian Kershaw in seinem Buch "Achterbahn. Europa von 1950 bis heute".

Diese Vorstellung vom "Tiananmen-Massaker" hat sich in der Öffentlichkeit eingeprägt zusammen mit Bildern von hoher Symbolkraft, so von verbeulten Fahrrädern auf leeren Straßen, ausgebrannten Fahrzeugen sowie jenes vom Mann mit den Taschen in der Hand, der sich am 5. Juni Panzern in den Weg stellte.

Ein Mann steht allein vor 4 Panzern, Peking/China, 5.6.1989

Ein Bild, das in Erinnerung blieb: Am 5. Juni versuchte ein Mann mit einer Tasche in der Hand vier Panzer aufzuhalten. Bis heute ist nicht klar, wer der Mann war.

Augenzeugen werden verfolgt

In jener Nacht vom vom 3. auf den 4. Juni 1989 muss es schwierig gewesen sein, einen Überblick über die Lage auf dem Platz zu bekommen, der größer als 55 Fußballfelder ist. "Washington Post"-Reporter Matthews schrieb, viele ausländische Journalisten seien des Platzes verwiesen worden und hätten sich in anderen Stadtteilen aufgehalten. Es herrschten unübersichtliche Zustände wie in einem Bürgerkrieg.

Hauptproblem bei der Aufklärung ist jedoch, dass die Führung Chinas die Ereignisse bis heute kaum thematisieren will. Beteiligte, Angehörige und Augenzeugen werden bedroht und verfolgt. Jedes Jahr in den Wochen vor dem 4. Juni verschärfen die Behörden die Maßnahmen. Mittels intensivierter Überwachung und Hausarrest unterbinden sie Kontakte zu Journalisten. So erlebte es Christine Adelhardt, als sie 2014 als damalige ARD-Korrespondentin in Peking eine Dokumentation zum 25. Jahrestag drehen wollte.

Sie traf die Mutter eines getöteten Studenten und einen ehemaligen Soldaten im Herbst 2013, noch bevor die Überwachungsmaßnahmen verstärkt wurden. Die Mutter erzählte, sie habe ihren Sohn erschossen aufgefunden. Der ehemalige Soldat sprach über den Einsatz von Schusswaffen. Jedoch hätten sie nicht von Militärgewalt auf dem Tiananmen-Platz selbst berichtet, erinnert sich Adelhardt.

Tote auf der Straße des Ewigen Friedens

In den damaligen Berichten der Tagesschau um 20 Uhr und den Tagesthemen war nicht von einem Massaker auf dem Tiananmen-Platz die Rede. Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs sprach von einem "Massaker in Peking".

Korrespondent Jürgen Bertram berichtete telefonisch: "Bis in die frühen Morgenstunden Pekinger Zeit hallten Schüsse durch fast die gesamte Stadt." Barrikaden, Militärlastwagen und Panzer hätten in Flammen gestanden. Bis zum Letzten entschlossene Bürger seien mit Eisenstangen und Molotowcocktails durch Peking gezogen. Am nächsten Tag beschrieb er den Anblick einer Zufahrtsstraße zum Tiananmen-Platz: "Auf der Straße des Ewigen Friedens im Herzen der Stadt lagen Tote und Verletzte zwischen verbeulten Fahrrädern."

Schüsse auf Zivilisten

Als eine der wenigen ausländischen Augenzeugen harrte BBC-Reporterin Kate Adie mit ihrem Kameramann lange auf dem Platz und der angrenzenden Straße des Ewigen Frieden aus. Während sie berichtete, waren Schüsse zu hören. In einer Szene fuhren Lkw mit Soldaten vorbei, die in die Menge schossen. Sie zeigte Aufnahmen aus einem Krankenhaus nahe des Platzes, in das laufend Zivilisten mit Schusswunden eingeliefert wurden.

In den Tagesthemen berichtete eine deutsche Augenzeugin, sie habe in jener Nacht vom nahegelegenen "Peking"-Hotel aus zwischen 3 und 4 Uhr Menschen vom Tiananmen-Platz fliehen sehen, auf die geschossen worden sei.

Hunderte oder Tausende Opfer

Eine Rekonstruktion der Ereignisse ist schwierig. Aus den einzelnen Berichten ergibt sich aber dieses Bild: Auf dem Weg in das Stadtzentrum gingen die Soldaten gegen Arbeiter und Anwohner vor, die ihnen den Weg mit Barrikaden versperrt hatten. Anders als in den Wochen zuvor trugen die Soldaten am 3. Juni volle Ausrüstung und fuhren in gepanzerten Fahrzeugen. Erstmals schossen sie mit scharfer Munition, nicht mit Gummigeschossen.

Den Tiananmen-Platz erreichten die Panzer gegen Mitternacht. Es gelang jedoch, für die noch verbliebenen Studenten freies Geleit auszuhandeln, die bis 5.30 Uhr den Platz verließen. Getötet und verletzt wurden Menschen vor allem in den umliegenden Straßen und westlich des Tiananmen-Platzes. Bis heute ist unklar, ob es Hunderte oder Tausende Opfer waren.

Kein "Fake"-Massaker

Dabei hatten beide Seiten versucht, den Konflikt durch Dialog zu lösen. Jedoch scheiterten am 19. Mai 1989 Gespräche des moderaten KP-Chef Zhao Ziyang und Ministerpräsident Li Peng mit den Studenten, von denen ein Teil ihren Hungerstreik auf dem Tiananmen-Platz fortsetzen wollte und zunehmend radikalere Forderungen stellte. In der kommunistischen Führung gewannen Hardliner die Oberhand. Sie verhängten das Kriegsrecht und ließen schließlich den Volksaufstand niederschießen.

Aufstand China Tiananmenplatz

Anfangs trugen die Soldaten keine Waffen und Schutzausrüstung.<br/>Hier im Bild eine Demonstration am 15. Mai 1989 während des Staatsbesuch von Michael Gorbatschow.

Von einem "Fake-Massaker" kann keine Rede sein. Werden die Berichte über den Aufstand hingegen auf die Studenten auf dem Tiananmen-Platz verengt, so gerät aus dem Blick, dass weit mehr Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung auf die Straßen gingen. Es ist kaum anzunehmen, dass ausländische Agitation eine solche Wirkung entfalten könnte. Vielmehr zeigten die Proteste eine grundlegende Unzufriedenheit über die Bevorzugung von Kadern, Justizwillkür und die Begleiterscheinungen der damaligen Wirtschaftsreformen wie Inflation und Korruption.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die ARD im "Weltspiegel Extra" am 03. Juni 2014 um 18:43 Uhr.