Desinformation zu Belarus Erwartbar und durchschaubar
Auf die Entführung der Ryanair-Maschine nach Minsk reagiert Führung und Medien in Russland mit bekannten Methoden. Für eine russische Beteiligung spricht bislang allerdings wenig.
"Schockierend" - dieses Wort war als Reaktion auf die erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine am Sonntag in Minsk sowohl aus Westeuropa als auch aus Moskau zu hören. Doch eine Sprecherin des russischen Außenministeriums meinte nicht den Vorfall selbst, sondern die Reaktionen des Westens darauf, die sie als Heuchelei kritisierte.
Die Sprecherin und deutsche Politiker wie Gregor Gysi und Andrej Hunko von der Linkspartei verwiesen auf das Jahr 2013. Damals musste der bolivianische Präsident Evo Morales auf dem Heimflug aus Moskau einen Zwischenstopp auf dem Flughafen Wien einlegen. Es gab offenbar die Vermutung, dass sich der Whistleblower und Ex-US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden an Bord befand.
Abgesehen davon, dass auch damals die Medien über den Vorfall teils mit harscher Kritik berichteten, unterscheiden sich Vorgehen und die damit verbundenen Risiken deutlich voneinander.
2013 war der Präsident Boliviens in einer Privatmaschine unterwegs. Der Zwischenstopp war notwendig, weil ihm Frankreich, Portugal und Italien das Überflugrecht verweigerten. Nachdem österreichische Beamte das Flugzeug inspiziert hatten, konnte Morales weiterfliegen. Der per US-Haftbefehl gesuchte Snowden befand sich zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einer Woche im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Er hatte in mehreren Ländern, darunter Bolivien, Asyl beantragt.
"Beängstigender Vorfall"
Bei dem Vorfall am Sonntag hingegen handelte es sich um eine zivile Maschine mit mehr als 170 Passagieren an Bord. Die Behauptung der Regierung in Minsk von einer Bombendrohung der Hamas wies die radikalislamische Palästinenerorganisation umgehend zurück. Mehrere Tage nach Beginn des Waffenstillstands mit Israel hätte eine solche Drohung auch wenig Sinn ergeben.
Zudem eskortierte ein Kampfjet MiG-29 die Ryanair-Maschine nach Minsk. Flugradaraufzeichnungen zeigen, dass sich die Maschine bereits an der Grenze zu Litauen befand und Vilnius näher als Minsk war. Nach Einschätzung von Experten hatten die Ryanair-Piloten keine Wahl. Im Fall einer mutmaßlichen Bombengefahr an Bord müssten sie sich an die Anweisungen halten, sagte der Flugsicherheitsberater John Cox. Ryanair-Chef Michael O'Leary erklärte, der Vorfall sei "sehr beängstigend" für Passagiere und Personal gewesen, die stundenlang von Bewaffneten festgehalten worden seien.
Insofern lenkt eine Gleichsetzung beider Ereignisse von den Umständen des aktuellen Falls ab, ohne dass der Aufklärung geholfen wäre. Die rhetorische Methode des "Whataboutism" zur Ablenkung von sachlichen Debatten mittels Scheinargumenten wenden russische Akteure seit Jahren an. Ein Fall ist die Annexion der Krim mit dem Verweis auf die Unabhängigkeit des Kosovo.
Geständnis in Haft
Hinzu kommt der Umgang mit dem Blogger und Aktivisten Roman Protasewitsch, der mit seiner Freundin in Minsk verhaftet wurde, was offensichtlich das Ziel der Flugzeugentführung war. Protasewitsch ist Mitgründer des Nachrichtenkanals Nexta auf Telegram. Dieser spielte seit Beginn der Proteste gegen die Präsidentenwahl im August 2020 eine wichtige Rolle als Alternative zu staatlich gelenkten Kanälen.
Diese veröffentlichten gestern ein Video mit einem angeblichen Geständnis Protasewitschs in Untersuchungshaft: Er habe Massenunruhen in Minsk organisiert. Sein Vater äußerte Sorge, er könne mit Gewalt zu dieser Aussage gezwungen worden sein. "Mein Sohn kann nicht zugeben, Massenunruhen verursacht zu haben, weil er so etwas einfach nicht getan hat", sagte er der Agentur Reuters.
Nexta ist ein junges Medium, dessen Mitarbeiter als Blogger und Aktivisten agieren. Sie veröffentlichen Informationen auch ungeprüft, einiges stellt sich im Nachhinein als falsch heraus. Nexta postete Treffpunkte von Protestaktionen und Ratschläge für Teilnehmer. Doch handelte es sich um weitgehend friedliche Demonstrationen. Massive Gewalt wenden hingegen Polizei und Spezialkräfte an. Tausende wurden festgenommen, viele von ihnen müssen Haftstrafen absitzen und werden teils schwer misshandelt.
Gerüchte über Protasewitsch
Neben dem Geständnis kursieren Gerüchte über Protasewitsch. Er habe in der Ostukraine gekämpft, sich mit faschistischen Organisationen eingelassen und vom Westen organisierte "Farbrevolutionen" anzetteln wollen - auch dies eine bekannte Methode der Diskreditierung und Ablenkung. Tatsächlich berichtete Protasewitsch dem renommierten russischen Blogger Juri Dudd im September 2020 davon, dass er bei den Maidan-Protesten eine Woche in Kiew und später im Donbass gewesen sei. Er habe sich als Journalist die Ereignisse vor Ort anschauen wollen. Protasewitsch erhielt ein "Vaclav-Havel"-Stipendium des tschechischen Außenministeriums.
Agenten an Bord?
Oppositionelle sehen die Entführung als Vergeltung und Signal, ausgesandt von Machthaber Alexander Lukaschenko: "Seht, wozu ich in der Lage bin." Applaus kam aus Russland: RT-Chefin Margarita Simonjan schrieb auf Twitter, sie beneide Belarus. Es sei einer schöner Spielzug Lukaschenkos gewesen.
Ob dieser mit dem Einverständnis und der Unterstützung Wladimir Putins handelte, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Der britische Außenminister Dominic Raab zum Beispiel sagte, es sei schwer zu glauben, dass Russland nicht zumindest zugestimmt habe.
Geheimdienstexperte Christo Grozev allerdings zeigte sich skeptisch, was eine Beteiligung Moskaus betrifft. Der belarusische KGB verfüge über eine eigene Präsenz in Westeuropa und traue dem russischen FSB nicht. Auch der Zeitpunkt spricht gegen eine Beteiligung Russlands - die Führung um Putin bereitet sich auf ein Treffen mit US-Präsident Joe Biden vor. Wie heute bekannt wurde, soll es im Juni in Genf stattfinden.