Vor Treffen in Luxemburg Worum es beim Streit über die EU-Asylreform geht
Die geplante Asylreform sorgt nicht nur in den EU-Staaten für Diskussion. Auch in den Ampelparteien gibt es Streit. Vor den heutigen Beratungen versuchen alle Seiten, auf die Bundesregierung einzuwirken. Worum geht es überhaupt?
Deutschland und die anderen EU-Staaten ringen vor dem Hintergrund stark steigender Migrationszahlen um eine Reform des gemeinsamen Asylsystems. Gelingt nach jahrelangem Streit endlich ein Durchbruch? Heute kommen die Innenministerinnen und Innenminister zu einem mit Spannung erwarteten Treffen in Luxemburg zusammen.
Worum geht es?
Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 ist klar, dass die geltenden EU-Asylregeln überarbeitet werden müssen. Damals waren Länder wie Griechenland mit einem großen Zustrom an Menschen aus Ländern wie Syrien überfordert und Hunderttausende konnten unregistriert in andere EU-Staaten weiterziehen. Dies hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn nach der sogenannten Dublin-Verordnung sollen Asylbewerber da registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten haben. Dieses Land ist in der Regel auch für den Asylantrag zuständig.
Was soll nun passieren?
Kern der Reformvorschläge sind Maßnahmen, die zu einem deutlichen Rückgang des Zustroms von Menschen ohne Anrecht auf Schutz führen sollen. Gemäß dem ursprünglichen Entwurf der EU-Kommission sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, in einem Grenzverfahren die Asylanträge der Antragsteller bereits an der Außengrenze oder in Transitzonen - also faktisch in gesicherten Bereichen oder Einrichtungen - innerhalb weniger Wochen auf ihre Zulässigkeit hin zu überprüfen. Zu diesem Zweck können die Antragsteller dann in entsprechende Einrichtungen an oder in der Nähe ihrer Außengrenzen gebracht werden. Bei der Prüfung geht es unter anderem um die Frage, ob Antragsteller aus einem sicheren Drittstaat kommen. Auch die Täuschung von Behörden und die mögliche Vorlage falscher Unterlagen soll geprüft werden. In dem Verfahren wird ebenfalls die Aussicht auf einen Erfolg eines regulären Asylverfahrens thematisiert, indem die statistische Anerkennungs- bzw. Schutzquote von Antragstellern aus den betreffenden Ländern betrachtet wird. Als wichtiger Orientierungspunkt wird hier eine Quote von weniger als 20 Prozent genannt. Je nach Ausgang des Grenzverfahrens können Antragsteller dann entweder zurückgeschickt oder bei entsprechender Beurteilung der Chancen dann für die Durchführung eines regulären Asylverfahrens ins Land gelassen werden.
Um wie viele Menschen geht es?
Die Zahl der Asylanträge in der EU stieg nach einem Rückgang während der Corona-Pandemie zuletzt wieder deutlich an. Im vergangenen Jahr wurden in den 27 Mitgliedstaaten 881.200 Erstanträge gestellt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies ein Plus von 64 Prozent. Stattgegeben wird im EU-Schnitt nicht einmal jedem zweiten Antrag. In Deutschland stellten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 125.556 Menschen erstmals einen Asylantrag. Das waren fast 77 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Wo kommen derzeit die meisten Migranten an?
Besonders betroffen ist Italien. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR wurden dort in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Migranten registriert. Die meisten von ihnen kamen aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch und hatten damit so gut wie keine Aussichten auf eine legale Bleibeperspektive.
Was soll künftig mit Schutzsuchenden passieren, die Chancen auf Asyl haben?
Sie würden nach den derzeitigen Plänen wie bisher ein normales Verfahren durchlaufen, also in der Regel in den Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen. Wenn Länder mit einem sehr großen Zustrom an Menschen konfrontiert sind, sollen sie allerdings über einen Solidaritätsmechanismus Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten beantragen können. Eine bestimmte Anzahl an Schutzsuchenden würde dann über einen Verteilungsschlüssel in andere Länder kommen. Staaten, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssten für jeden nicht aufgenommenen Menschen eine Kompensationszahlungen leisten. Im Gespräch waren zuletzt Summen um die 20.000 Euro pro Person.
Warum gestalten sich die Verhandlungen so schwierig?
Grund sind unterschiedliche Interessen und Einstellungen zur Migration in den EU-Staaten. Derzeit besonders stark von Migration betroffene Länder wie Italien wollen nur dann mehr Verantwortung bei den Verfahren im eigenen Land übernehmen, wenn sie im Gegenzug mehr Solidarität anderer Länder garantiert bekommen. Ihr Druckmittel ist die derzeitige Situation, in der viele Migranten nach ihrer Ankunft aus Ländern wie Tunesien einfach in andere Länder wie Österreich, Deutschland oder Frankreich weiterreisen können. Länder wie Ungarn wollen hingegen die EU-Außengrenzen am liebsten ganz dicht machen und sich nicht an der Umverteilung von Flüchtlingen beteiligen.
Was ist mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine?
Menschen aus der Ukraine genießen in der EU wegen einer Sonderregelung vorübergehenden Schutz, ohne dass sie Asyl beantragen müssen. Für sie haben die Diskussionen derzeit deswegen keine unmittelbare Bedeutung.
Was will die Bundesregierung?
Mit den meisten Vorschlägen, die aktuell auf dem Tisch liegen, ist die Bundesregierung einverstanden. Deutschland will aber zum Beispiel durchsetzen, dass nicht nur unbegleitete Minderjährige von den Grenzverfahren ausgenommen werden, sondern auch Familien mit Kindern, wenn mindestens ein Kind minderjährig ist. Für diese Forderung aus Berlin gibt es im Kreis der Mitgliedstaaten allerdings wenig Unterstützung.
In Deutschland umstritten ist auch die vorgeschlagene Sichere-Drittstaaten-Regelung. Danach könnte beispielsweise jemand, der aus Ghana stammt und mit einem Schlepperboot von Tunesien nach Italien kommt, nach Tunesien zurückgeschickt werden, vorausgesetzt Tunesien wäre dazu bereit und würde als sicherer Staat angesehen. Auf Wunsch der Bundesregierung war im Text festgehalten worden, dass es eine Verbindung zwischen dem Drittstaat und dem Antragsteller geben müsse und ein reiner Transit nicht ausreiche. Nach Informationen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) verlangten nun jedoch 15 bis 16 Staaten in einer letzten Verhandlungsrunde der EU-Botschafter, diese Einschränkung zu streichen.
Wie argumentiert die Bundesregierung?
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) weist mit Blick auf die Grenzverfahren darauf hin, dass dies eine relativ kleine Gruppe sei. Sie sagt: "Was man eigentlich generell beobachten kann, ist, dass die Menschen mit einer hohen Schutzquote, die kommen in der Regel mit ganzen Familien und Kindern aus Afghanistan, aus Syrien, aus Kriegsgebieten." Diejenigen, die aus Staaten mit geringer Anerkennungsquote kämen - und nur für die gelte ja das Grenzverfahren - kämen in der Regel nicht mit Kindern.
Welche Kritik gibt es aus den Parteien?
In der Ampel-Koalition gibt es Meinungsverschiedenheiten. Entsprechend schwierig war die Festlegung einer gemeinsamen Verhandlungsposition. Die FDP-Migrationspolitikerin Ann-Veruschka Jurisch etwa warb für die Reform: "So sehr es ein Recht auf Asyl und rechtsstaatliche Verfahren gibt und geschützt werden muss, so wenig gibt es ein uneingeschränktes Recht auf Einreise und Aufnahme in der EU und in Deutschland." Der SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann warnte, wenn die Reform scheitere, könnte "die Zeit der offenen Grenzen in Europa vorbei sein". Grünen-Parteichef Omid Nouripour wandte sich bei RTL hingegen "um jeden Preis" dagegen. Die Parteibasis der Grünen beklagte in einem Schreiben einen Kurs der "Abschreckung und Abschottung" und Pläne zu einer "massiven Beschneidung des Asylrechts". Ähnlich gespalten äußerten sich auch Politiker der Opposition.
Auf die Kritik angesprochen, sagte Faeser diese Woche kurz und knapp: "Wir haben eine geeinte Position. Auf dieser Basis verhandele ich." Unklar ist, was passiert, wenn eine Mehrheit der Mitgliedstaaten Familien mit Kindern nicht aus dem Grenzverfahren ausschließen will. Wenn Deutschland sich dann bei der Abstimmung zur Reform enthält, könnte sie daran scheitern.
Was sagen Migrationsforscher zu den EU-Plänen?
Der Rat für Migration kritisiert die Pläne. Die Forscher erwarten, dass sich dadurch die Flüchtlingskrise in Europa nur verschärfe. Forschungen zu bereits in Pilotprojekten umgesetzten Maßnahmen des Reformpakets zeigten, "dass diese nicht menschenrechtskonform umgesetzt werden können". Sie erwarten, dass die Vorschläge weitere Anreize für die Staaten an den Außengrenzen schaffen, noch stärker illegale Zurückweisungen vorzunehmen und Schutzsuchende an den Grenzen zu inhaftieren. Der Rat forderte ebenso wie andere Wissenschaftler die Bundesregierung dazu auf, gegen die EU-Pläne zu stimmen.
Würden durch die Reform weniger Asylsuchende nach Deutschland kommen?
Das ist noch schwer zu sagen. Deutschland müsste vermutlich über den Solidaritätsmechanismus Menschen aus den Außengrenzstaaten aufnehmen. Zugleich könnten viel weniger Menschen auf illegalem Weg kommen. Außerdem würde Deutschland profitieren, wenn - was diskutiert wird - die Rücküberstellungen nach den Dublin-Regeln vereinfacht werden.
Wie sind die Erfolgsaussichten auf eine Einigung?
Die Verhandlungen gestalten sich wegen der unterschiedlichen Interessen extrem schwierig. Bis zuletzt war unklar, ob die Innenministerinnen und Innenminister am Donnerstag wirklich einen Beschluss treffen können. Voraussetzung dafür wäre, dass 15 von 27 Mitgliedstaaten mit Ja stimmen, wobei diese zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen müssen. Wenn sich keine ausreichend große Mehrheit abzeichnet, müssten die Verhandlungen noch einmal fortgesetzt werden.
Auch durch die Drittstaaten-Regelung könnte eine Einigung gefährdet sein. Einige Länder, wie Österreich, machten laut FAZ ihre Zustimmung davon abhängig, den von Deutschland geforderten Zusatz zu streichen. Deutschland deutete hingegen an, in dem Fall der Reform möglicherweise nicht zuzustimmen.
Gibt es eine Frist für die Verhandlungen?
Wenn der EU-Ministerrat bis zur Sommerpause keinen Beschluss fasst, dürfte es kaum noch eine Chance geben, das Reformprojekt in absehbarer Zeit über die Ziellinie zu bringen. Grund ist, dass es auch noch Verhandlungen mit dem Europaparlament darüber geben muss und dieses im Juni 2024 neu gewählt wird. Gib es keine Einigung, könnte es sein, dass an weiteren EU-Binnengrenzen Grenzkontrollen angeordnet werden, so wie aktuell schon an der deutsch-österreichischen Landgrenze.
Quellen: dpa, AFP