Epidemiologe zur Corona-Lage "Wir sind in einer Welle der Welle"
Lockerungen trotz steigender Inzidenzen? Epidemiologe Hajo Zeeb warnt davor, die gleichen Fehler zu machen wie im Frühjahr 2021: "Corona ist nicht vorbei." Wer ist besonders gefährdet und was hat das mit der Impflücke zu tun?
tagesschau.de: Die Corona-Inzidenzen erreichen Höchstwerte, aber in Deutschland sollen in Kürze die meisten Beschränkungen wegfallen. Was halten Sie davon?
Hajo Zeeb: Wir sind mitten in einer Welle der Welle. Eigentlich sind wir aus der fünften Welle nie herausgekommen. Und jetzt steigen die Zahlen wieder an. Wir brauchen daher weiter substanzielle Corona-Maßnahmen, das ist ganz offensichtlich. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf mehr Eigenverantwortung zu setzen.
Prof. Hajo Zeeb ist Epidemiologe und leitet seit Januar 2010 die Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Er arbeitete zuvor unter anderem bei der Weltgesundheitsorganisation WHO im Bereich Public Health und ist Co-Sprecher des Wissenschaftsschwerpunkts Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen.
tagesschau.de: Welche Maßnahmen sollten dringend bestehen bleiben?
Zeeb: Die Maskenpflicht, vor allem in Innenräumen, sollte bundesweit bleiben, vielleicht mit einer Ausstiegsklausel. Aber erst müssen die Zahlen sinken, vor allem die Todeszahlen, bevor man diese hocheffektive Maßnahme aus der Hand gibt.
Die Maske als Symbol
tagesschau.de: Die Masken sind eine sehr einfache und zugleich sehr effektive Maßnahme, um Infektionen zu verhindern ...
Zeeb: Richtig. Die Maske ist im Laufe der Pandemie aber auch zum Symbol für Corona-Einschränkungen geworden. Fällt nun die Maskenpflicht, geht davon auch das Signal aus: Corona ist diese Einschränkung nicht mehr wert. Mich überrascht, dass die Bundesregierung nun ausgerechnet diese Maßnahme zum jetzigen Zeitpunkt aufgeben will. Ich sehe das sehr kritisch.
tagesschau.de: Sollte auch an Schulen weiterhin die Maskenpflicht gelten?
Zeeb: Die Infektionszahlen an den Schulen sind hoch. Es ist also durchaus problematisch, hier auf Masken zu verzichten, da Infektionen weitergegeben werden - auch wenn der Wunsch auf Unterricht ohne Masken verständlich ist. Ein Weg könnte sein, zumindest im Grundschulbereich auf Masken zu verzichten. In den oberen Klassen sollten sie weiter genutzt werden.
tagesschau.de: Wann wäre denn ein richtiger Zeitpunkt für Lockerungen? Die Beschränkungen können ja nicht ewig bleiben.
Zeeb: Die Fallzahlen dürften bis zum Sommer sinken. Darauf sollten wir warten. Auch die täglichen Todeszahlen sind weiterhin viel zu hoch, die Belastung in den Krankenhäusern steigt ebenfalls wieder. Gibt es hier eine sinkende Tendenz, spricht alles für Lockerungen.
Ältere ungeimpfte Menschen besonders gefährdet
tagesschau.de: Das Gefahrenbewusstsein der Menschen nimmt ja auch deshalb ab, weil Infektionen mit der Omikron-Variante häufig mild verlaufen. Nun gibt es aber Daten aus Hongkong, die belegen, dass ältere ungeimpfte Menschen häufig einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf haben. Was heißt das für uns hier in Deutschland?
Zeeb: Das sollte uns zu denken geben. Denn gerade bei Älteren ist unsere Impfquote vergleichsweise niedrig. Mehr als zwei Millionen Menschen über 60 sind hierzulande noch ungeimpft. Lockerungen dürften also gerade bei dieser Personengruppe zu höheren Fallzahlen führen. Jetzt rächt sich unser schleppendes Impftempo. Hier sind wir einfach nicht gut.
tagesschau.de: Aber bald kommt ja die allgemeine Impfpflicht. Im Gesundheits- und Pflegebereich gilt sie sogar schon ...
Zeeb: Wir müssen dringend die erhebliche Impflücke schließen, von mir aus auch über eine Impfpflicht. Besser wäre natürlich, wir würden die Impfquote ohne Pflicht erhöhen - etwa über gute Impfkampagnen und niedrigschwellige Angebote. Aber das haben wir nicht geschafft. Fakt ist: Unsere Impfquote ist zu niedrig, das Impftempo lahmt, auch das Boostern ist längst keine Erfolgsgeschichte mehr. Die Impfpflicht kann da nochmal den Schwung reinbringen, den wir dringend brauchen.
"Eine gefährliche Entwicklung"
tagesschau.de: Der Corona-Expertenrat fordert von der Bundesregierung, im Notfall handlungsfähig zu bleiben. Also schnell auch wieder Maßnahmen verhängen zu können, wenn sich die Pandemie-Lage weiter verschlechtert. Jetzt gibt sie aber fast alle Instrumente aus der Hand. Machen wir die gleichen Fehler wie im vergangenen Frühjahr?
Zeeb: Es sieht so aus. Auch wenn viele Bundesländer hier zumindest etwas bremsen, und die Hotspot-Regelung ja auch schärfere Maßnahmen zulässt. Doch insgesamt ist das eine gefährliche Entwicklung, denn die Inzidenzen sind weiter hoch, und sie werden auch im Herbst und Winter erneut steigen. Corona ist nicht vorbei, auch wenn wir es uns wünschen.
"Das käme einer Resignation gleich"
tagesschau.de: Was würden Sie der Politik konkret vorschlagen, damit wir einigermaßen sicher in den Herbst gehen können?
Zeeb: Zwei Dinge: Impfen und Masken. Also, das Impftempo zu erhöhen und jetzt schnell die Impfpflicht umzusetzen. Und die Maskenpflicht in Innenräumen bundesweit beizubehalten.
tagesschau.de: Mit der Omikron-Variante war die Hoffnung groß, nun in eine endemische Phase zu kommen. Berechtigt oder naiv?
Zeeb: Wir sind im Übergang in eine endemische Phase, aber noch sind die Fallzahlen weiterhin viel zu hoch. Das ist absolut ungünstig. Klar, Corona wird bleiben, aber solange das Virus nicht auf einem niedrigeren Niveau zirkuliert und weniger Gesundheitsschäden verursacht, dürfen wir uns nicht damit abfinden. Das käme einer Resignation gleich. Dabei haben wir Schutzmöglichkeiten. Die jetzt aus der Hand zu geben, ist schon fahrlässig. Denn dadurch wird auch das Signal ausgesendet, die Pandemie sei vorbei, Lockerungen seien vertretbar. Aber die sind nicht umfassend vertretbar - nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
Mit Corona leben lernen
tagesschau.de: Sie sagen, dass Corona bleiben wird. Was also ist das Ziel? Mit Corona leben lernen, immer wieder auf Ausbrüche reagieren, sich von Welle zu Welle hangeln?
Zeeb: Wir werden mit Corona leben, aber wir sollten große Infektionswellen vermeiden. Und wir müssen die Menschen schützen, die besonders anfällig sind, also Ältere und chronisch Kranke. Das muss besser gelingen als bisher.
tagesschau.de: Aber ist es nicht nach zwei Jahren Pandemie an der Zeit, auf mehr Eigenverantwortung zu setzen? Wer will, kann ja weiter Maske tragen.
Zeeb: Ich sehe keinen Grund, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit den hohen Inzidenzen auf mehr Eigenverantwortung zu setzen. Zumal ja auch schon immer Spielraum war für Eigenverantwortung - etwa, indem man sich testen lässt, bevor man Eltern oder Großeltern besucht. Das Tragen der Maske fällt hingegen in den Spielraum für staatliches Handeln. Alles andere wäre eine Verschiebung von Verantwortung.
Das Interview führte Wenke Börnsen, tagesschau.de