Das zerstörte Fahrzeug von Kassem Soleimani.
Interview

Krise im Nahen Osten "Das Völkerrecht wird zurechtgebogen"

Stand: 10.01.2020 12:36 Uhr

War die Tötung des iranischen Generals Soleimani durch das Völkerrecht gedeckt? Ja, sagt der Jurist Talmon im Interview mit tagesschau.de. Er kritisiert jedoch, dass sich Staaten das Völkerrecht zunehmend zurechtbiegen, um ihre Aktionen zu legitimieren.

tagesschau.de: Auslöser der jüngsten Spannungen im Nahen Osten ist die gezielte Tötung eines iranischen Generals durch die USA. War diese Aktion durch das Völkerrecht gedeckt?

Stefan Talmon: Wir wissen, dass das amerikanische Verteidigungsministerium kurz vor der Tötung des iranischen Generals Kassem Soleimani eine lange Pressemitteilung veröffentlicht hat. Darin werden mehrere Angriffe auf amerikanische Einheiten seit November 2019 aufgelistet. Durchgeführt wurden diese von schiitischen Milizen, die vom Iran kontrolliert und gesteuert werden sollen. Gegen diese Serie bewaffneter Angriffe haben sich die USA rechtmäßig verteidigt.

Zur Person

Prof. Stefan Talmon ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Bonn. Er berät Staaten und internationale Unternehmen in völkerrechtlichen Fragen. Vor seiner Berufung nach Bonn war er unter anderem Professor of Public International Law an der Universität Oxford.

tagesschau.de: Sind denn Handlungen schiitischer Milizen einfach so dem Iran zuschreiben?

Talmon: Grundsätzlich lassen sich die Handlungen nichtstaatlicher Akteure dem Staat zurechnen, der diese Handlungen steuert und kontrolliert. Hier darf man davon ausgehen, dass die Angriffe durch schiitische Milizen durchaus dem Iran zugerechnet werden können.

tagesschau.de: Die Iraner werfen den Amerikanern wiederum vor, dass sie sich wegen des aufgekündigten Atomabkommens völkerrechtswidrig verhalten.

Talmon: Der Begriff "Aufkündigung" ist schon falsch. Der "Joint Comprehensive Plan of Action" (JCPOA) ist gar kein völkerrechtliches Abkommen, das rechtlich bindend wäre. Es ist eine politische Absprache, mehr nicht. Daher ist es kein Völkerrechtsbruch, wenn die Amerikaner - wie 2018 geschehen - sich daran nicht mehr halten wollen.

tagesschau.de: Muss man sich denn nicht auch auf Absprachen verlassen können?

Talmon: Wenn man sein politisches Vertrauen nicht verspielen möchte, dann schon. Völkerrechtlich jedoch nicht.

Sanktionen sind souveräne Entscheidungen

tagesschau.de: Das heißt, es ist in Ordnung, auch die Sanktionen gegen den Iran wieder in Kraft zu setzen?

Talmon: Hier muss man unterscheiden. Die internationalen Sanktionen gegen den Iran sind ja weiterhin außer Kraft. Nur die Amerikaner haben ihre nationalen Sanktionen wieder eingeführt. Das können sie als souveräner Staat tun, auch wenn etwa die Blockade des Zugangs zum amerikanischen Bankensystem und zum US-Dollar für die Iraner sehr schmerzhaft ist.

tagesschau.de: Bewegt sich die amerikanische Regierung unter Präsident Donald Trump damit völlig völkerrechtskonform?

Talmon: Ich möchte nicht als Apologet der Politik von Präsident Trump erscheinen, aber beim sogenannten Atomabkommen ist es so, dass das Völkerrecht den Amerikanern einen sehr weiten Spielraum lässt.

Kampf gegen den IS taugt nicht mehr als Begründung

tagesschau.de: Verhalten sich die USA überall im Nahen Osten völkerrechtskonform?

Talmon: Nein. In Syrien etwa sind nur Russland und der Iran auf einer gesicherten völkerrechtlichen Basis im Land aktiv, nämlich auf Einladung des international noch immer anerkannten Staatsoberhauptes Baschar al-Assad. Alle anderen Staaten begründen ihre Präsenz mit einem dubiosen Recht auf kollektive Selbstverteidigung gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat". Seitdem dieser aber keine territoriale Kontrolle mehr in Syrien ausübt, also spätestens seit März 2019, trägt diese Begründung nicht mehr.

tagesschau.de: Warum nicht? Es ist ja unbestritten, dass der IS und auch das Assad-Regime in Syrien schreckliche Verbrechen begangen haben.

Talmon: Im März 2019 wurde erklärt, dass der IS in Syrien besiegt sei, dass er keine territoriale Kontrolle mehr dort ausübe. Vor diesem Hintergrund gibt es keine rechtliche Grundlage mehr dafür, in Syrien militärisch aktiv zu sein - für die Bundeswehr übrigens auch nicht.

Eine IS-Flagge liegt im Staub.

Im März 2019 wurde erklärt, dass der Islamische Staat in Syrien besiegt sei.

"Völkerrecht von immenser Bedeutung"

tagesschau.de: Sind Menschenrechtsverletzungen kein Grund?

Talmon: Das Völkerrecht privilegiert die international anerkannte Regierung eines Staates. In Syrien ist dies Assad, und in Venezuela ist es immer noch Nicolás Maduro. Man muss diese Regierungen nicht sympathisch finden, aber das Völkerrecht erlaubt es nicht, diese - auch bei schwersten Menschenrechtsverletzungen - mit militärischen Mitteln einfach zu beseitigen. Es stellt sich auch die Frage, ob die Menschenrechte immer das Motiv für ein Eingreifen sind: Ginge es tatsächlich um Menschenrechte, müsste die internationale Gemeinschaft in sehr vielen anderen Ländern auch intervenieren. Das tut sie nicht.

tagesschau.de: Das Völkerrecht wird also bemüht, wenn es um rein politische Interessen geht - ist es damit zu einem beliebigen politischen Instrument verkommen?

Talmon: Das sehe ich anders: Die Tatsache, dass sich alle Seiten darauf berufen, zeigt mir, dass das Völkerrecht von immenser Bedeutung ist. Gerade in den westlichen Demokratien, wo sich Regierungen der öffentlichen Meinung stellen müssen, können diese kaum etwas tun, was klar völkerrechtswidrig wäre. Das führt jedoch auch immer wieder dazu, dass sich die Regierungen das Völkerrecht zurechtbiegen, um ihre Handlungen rechtlich legitimieren zu können. Damit wird dem Völkerrecht letzten Endes aber ein Bärendienst erwiesen.

Kaum Möglichkeiten zur Überprüfung

tagesschau.de: Wer kontrolliert denn, was nun völkerrechtlich richtig oder falsch ist?

Talmon: Das ist der große Schwachpunkt des Völkerrechts, das auf der souveränen Gleichheit der Staaten beruht. Dies bedeutet, dass die Staaten grundsätzlich zu nichts gezwungen werden können. Alles muss letztendlich auf ihrer Zustimmung beruhen. Es gibt zwar den Internationalen Gerichtshof, dieser kann aber nur tätig werden, wenn sich ein Staat seiner Gerichtsbarkeit freiwillig unterworfen hat. Von den 193 Mitgliedstaaten haben dies nur 74 bislang getan.

tagesschau.de: Deutschland hat sich aber der Gerichtsbarkeit unterworfen …

Talmon: Ja, aber erst 2008 und auch dann mit erheblichen Einschränkungen. Die meisten Unterwerfungserklärungen sind so löchrig wie ein Schweizer Käse. Die Staaten - auch Deutschland - schließen zahlreiche Streitigkeiten von der Gerichtsbarkeit aus, da ja kein Staat offiziell bescheinigt bekommen will, dass er das Völkerrecht gebrochen hat.

Internationaler Gerichtshof

Der Internationale Gerichtshof kann nur tätig werden, wenn sich ein Staat seiner Gerichtsbarkeit freiwillig unterworfen hat.

tagesschau.de: Vor 100 Jahren, am 10. Januar 1920, nahm der Völkerbund seine Arbeit auf. Der Völkerbund wurde nach dem zweiten Weltkrieg durch die Vereinten Nationen ersetzt. Was hat sich völkerrechtlich seitdem bewegt?

Talmon: Leider nicht viel. Die Forderungen nach mehr friedlicher Streitbeilegung statt militärischer Auseinandersetzung und nach mehr vertrauensvoller Zusammenarbeit statt "mein Land zuerst"-Politik gelten heute noch genauso wie 1920.

Das Interview führte Iris Marx, ARD-aktuell

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 8. Januar 2020 um 22:30 Uhr.