Interview zu Brexit-Verhandlungen "Keine Vorteile ohne Verpflichtungen"
Finanzen, Bürgerrechte und die neue EU-Außengrenze für Irland: Das sind größten Baustellen auf dem Weg zum Brexit, sagt EU-Chefunterhändler Verhofstadt im Interview mit tagesschau.de. Großbritannien werde auf jeden Fall Vorteile aufgeben müssen.
tagesschau.de: Herr Verhofstadt, in welche Richtung werden die Verhandlungen mit Großbritannien gehen?
Guy Verhofstadt: Das ist eine hypothetische Frage. Normalerweise antworte ich nicht auf hypothetische Fragen. Das wird ein kurzes Interview mit der ARD. Kommen Sie in zwei Jahren wieder.
Guy Verhofstadt ist Chefunterhändler des Europäischen Parlaments für die Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich. Das Parlament muss dem Brexit-Abkommen am Ende zustimmen. Der Politiker der flämischen Liberalen und Demokraten ist seit 2009 Europaabgeordneter und war zuvor neun Jahre Premierminister Belgiens.
tagesschau.de: Wo sind aus Ihrer Sicht die schwierigsten Probleme zu lösen?
Verhofstadt: Das schwierigste Problem ist, eine Vereinbarung über den Austritt hinzubekommen. Das ist wie bei einer Scheidung: Es gibt unterschiedliche Meinungen. Man muss das Finanzielle regeln. Bei einer Scheidung beenden Sie die Ehe nicht und überlassen alle Lasten dem Partner. Das nächste Problem sind die Bürgerrechte. Ich glaube, das hat absolute Priorität, weil wir den EU-Bürgern, die in Großbritannien leben, aber auch den Bürgern des Vereinigten Königreiches, die auf dem Kontinent leben, so schnell wie möglich Sicherheit geben müssen. Dann ist die Grenze zwischen Irland und Nordirland ein schwieriger Punkt, weil der Brexit dort enorme Probleme verursacht. Wir müssen vermeiden, dass es dort wieder eine harte Grenze gibt, die wie früher Gewalt zur Konsequenz haben könnte.
Einzelverhandlungen nicht nötig
tagesschau.de: Die EU gibt sich vor den Verhandlungen sehr einig. Aber zum Beispiel die Wirtschaft in Flandern, in den Niederlande oder in Dänemark ist besonders abhängig von Großbritannien. Kann das Probleme verursachen bei den Verhandlungen, weil diese Regionen andere Interessen haben als andere?
Verhofstadt: Der beste Weg, damit umzugehen ist, diese Länder und ihre besonderen Interessen bei den Verhandlungen mit an Bord zu nehmen. Und genau das werden wir tun. Es geht um Interessen der Niederlande, Dänemarks, Flanderns und besonders Irlands. Irland ist ein gutes Beispiel: Ich glaube, 60 Prozent des Exports geht in das Vereinigte Königreich. Wir sagen klar, die Interessen Irlands werden in das Verhandlungsmandat der EU aufgenommen. Das ist der beste Weg, um die Einheit der Union zu bewahren und den einzelnen Ländern zu sagen: Eure Interessen werden einbezogen, und es ist nicht nötig, einzelne Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich zu führen.
tagesschau.de: Auf der anderen Seite wird es aber doch erhebliche Probleme geben, beim Zoll zum Beispiel. Selbst wenn man sich darauf einigt, keine Zölle zu erheben, so sind in Zukunft wieder viele Zollformalitäten zu bewältigen. Was bedeutet das für die Länder hier?
Verhofstadt: Das wird vollständig davon abhängen, welche neue Beziehung wir zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich haben. Für sie wird es keinen Binnenmarkt mehr geben. Weil Großbritannien nicht mehr zum Binnenmarkt gehören will, weil sie nicht mehr die sogenannten vier Freiheiten akzeptieren können, besonders die Personenfreiheit. Zweitens können sie nicht mehr Mitglied der Zollunion sein, unglücklicherweise. Weil Großbritannien in Handelsfragen wieder selbst entscheiden will. Und das ist nicht möglich in der Zollunion, weil dort Europa die Kompetenz in der Handelspolitik hat. Der einzige Weg ist also eine andere Art von Abkommen.
"Die Vorteile für Großbritannien werden weniger sein"
tagesschau.de: Wo sind Vorbilder für ein solches Abkommen? Das mit der Ukraine zum Beispiel? Oder mit Norwegen, mit der Schweiz?
Verhofstadt: Sie alle sind völlig unterschiedlich. Norwegen gehört zum Binnenmarkt. Mit der Schweiz ist es ein Patchwork von Verträgen und sehr kompliziert. Mit der Ukraine ist es ein Assoziierungsabkommen. Ein Vorschlag des Parlaments lautet, das alles zu vereinfachen und zu sagen: Entweder seid ihr ein volles Mitglied der EU und nehmt teil an allem oder ihr seid es nicht und seid ein Nachbarstaat und habt ein Assoziierungsabkommen so wie es im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist.
Und wir haben das zum ersten Mal angewandt mit der Ukraine. Unser Vorschlag ist, in die Richtung eines Assoziierungsabkommens zu gehen. Nur über Handel zum Beispiel, es kann aber auch eine Zusammenarbeit bei der Forschung beinhalten, bei Bildung. Aber eines muss klar sein: Ein Assoziierungsabkommen kann niemals dasselbe sein wie eine Mitgliedschaft. Die Vorteile für das Vereinigte Königreich mit einem Assoziierungsabkommen außerhalb der EU werden weniger sein, als wenn es Mitglied ist. Und ich denke, das ist normal.
Frexit, Nexit, Oexit? "Daran glaube ich nicht"
tagesschau.de: Angenommen, die Scheidung gelingt, geht also für Großbritannien gut aus, nehmen wir an, Großbritannien hat ein paar Vorteile durch die Trennung…
Verhofstadt: ...und eine Menge Verpflichtungen, keine Vorteile ohne Verpflichtungen…
tagesschau.de: Ok, aber alle sagen, es wird schwer für Großbritannien, aber was wenn nicht?
Verhofstadt: Was wäre zu befürchten? Dass es einen Dominoeffekt geben könnte mit anderen Ländern? Daran glaube ich nicht. Wir sehen gerade einen mehr oder weniger umgekehrten Dominoeffekt. Seit der Brexitentscheidung sehen viele Menschen in der EU deren Vorteile. Im Moment der Brexit-Entscheidung haben viele Leute gesagt, nun ist es Zeit für einen Frexit oder Nexit. Es ist Zeit für einen Oexit für Österreich und so weiter… was aber passiert, ist genau das Gegenteil.
In den Niederlanden haben zum Beispiel die proeuropäischen Parteien die Wahlen gewonnen und nicht Wilders. Wir sehen in den meisten Umfragen, zum Beispiel in Deutschland, in Frankreich, in den skandinavischen Ländern, haben die Menschen mehr und mehr Vertrauen in die Europäische Union. Das bedeutet nicht, dass die öffentliche Meinung weniger kritisch gegenüber der EU ist, und ich denke, sie ist aus gutem Grund sehr kritisch. Aber sie sagen sich, wir sind nicht so dumm, auszusteigen und die EU zu zerstören. In gewisser Weise hat der Brexit und vielleicht auch die Wahl von Trump einen positiven Effekt. Auch bei der ersten Runde der französischen Wahlen ist mit Macron ein proeuropäischer Politiker als stärkster Kandidat hervorgegangen.
tagesschau.de: Müsste dann nicht die Wahl in Großbritannien den Exit vom Brexit bringen?
Verhofstadt: Ich glaube eher nicht, dass das passieren wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Liberaldemokraten, die Partei, die am meisten proeuropäisch und am stärksten gegen den Brexit ist, gewinnen wird. Sie werden nicht die Mehrheit haben, aber sie werden eine Anzahl Sitze gewinnen und das wird der Beleg sein für die Tatsache, dass die Menschen die EU nicht aufgeben wollen.
Das Gespräch führte Michael Grytz für tagesschau.de.