Interview

Flüchtlingszahlen in Krisengebieten Wie groß sind die Fragezeichen?

Stand: 08.10.2014 18:00 Uhr

Hunderttausend Flüchtlinge an der türkischen Grenze, Hunderttausende, die die Ukraine verlassen haben: Zahlen wie diese schrecken die Öffentlichkeit auf. Das UNHCR ermittelt sie indes häufig nicht selbst, sondern arbeitet mit Dritten zusammen. UNHCR-Sprecher Stefan Teloeken sagt im Interview: "Unsere Zahlen sind plausibel."

tagesschau.de: Flüchtlingszahlen sind in jedem Konflikt ein Politikum. Wie kommt das UNHCR zu seinen Zahlen?

Stefan Teloeken: Bei unseren Berichten stützen wir uns auf drei Säulen. Das sind zum einen unsere eigenen Zahlen - in vielen Staaten gibt es keine nationale Behörde, die Flüchtlinge oder Asylsuchende registriert. Zum anderen analysieren und übernehmen wir Regierungszahlen - das gilt zum Beispiel für Industriestaaten. Und wir arbeiten mit Nicht-Regierungsorganisationen zusammen. Das gilt vor allem für die Gruppe der Binnenvertriebenen, die wir in der Regel nicht registrieren, für die wir aber in manchen Gebieten auch Hilfe leisten. Für diese Gruppe gibt es weltweit die meisten Schätzungen. Diese nicht-staatlichen Organisationen erheben in unserem Auftrag Zahlen, die dann in unsere Berichte einfließen.

Zur Person
Stefan Teloeken ist Sprecher des UNHCR Deutschland.

tagesschau.de: Wie überprüfen Sie die Glaubwürdigkeit dieser Organisationen?

Teloeken: Wir sprechen hier von internationalen nicht-staatlichen Organisationen, die eine große Reputation haben. Das Internal Displacement Monitoring Center des Norwegischen Flüchtlingsrates, mit dem wir beim Thema Binnenvertriebene zusammenarbeiten, ist sicher eine der glaubwürdigsten Institutionen weltweit. Im übrigen bekommen wir auch Zahlen von anderen UN-Organisationen - wie etwa dem UN-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge. Alle Zahlen müssen - auch unseren Kollegen vor Ort - plausibel sein und transparent. Deshalb geben wir in unseren Berichten immer an, von wem diese Angaben stammen. Uns ist aber bewusst, dass dies immer eine Interpretation nach sich ziehen kann. Auch wenn wir die Quellen angeben, ist es am Ende in der Öffentlichkeit immer eine UN-Angabe.

tagesschau.de: Wenn eine Gruppe wie der "Islamische Staat" grenzüberschreitend im Irak und Syrien kämpft, kommen die Zahlen also aus mehreren Quellen.

Teloeken: Im Irak haben wir es mit irakischen Bürgern zu tun, die innerhalb ihres Landes fliehen. Sie werden von staatlichen Stellen registriert. Syrische Bürger, die vor dem Bürgerkrieg in den Libanon oder nach Jordanien geflohen sind, werden von uns registriert. In der Türkei zählen die türkischen Behörden, wer wegen der Kämpfe im Nachbarstaat über die Grenze kommt.

tagesschau.de: In jüngster Zeit sind gerade die Angaben zu den Flüchtlingen im türkisch-syrischen Grenzgebiet angezweifelt worden. Hier teilte das UNHCR Ende September mit, im Grenzgebiet zur Türkei hielten sich 140.000 Menschen auf. Das wurde von der Bürgermeisterin von Suruc bestritten - sie sprach von zu diesem Zeitpunkt maximal 30.000 geflohenen Kurden. Wie erklären Sie sich diese Differenz?

Teloeken: Wir sprechen hier über Menschen, die innerhalb sehr kurzer Zeit wegen des Vormarsches des IS über die Grenze gekommen sind und die noch nicht alle als Flüchtlinge registriert werden konnten. Sie sind zunächst einem Gesundheits- und Sicherheitscheck unterzogen worden. Viele von ihnen sind in der Grenzregion geblieben, viele sind in andere Gegenden des Landes weitergezogen. Die Gesamtzahl - und sie liegt inzwischen deutlich höher - kommt von der türkischen Katastrophenschutzbehörde, und wir halten sie für plausibel.

tagesschau.de: Wenn die Zahlen so auseinandergehen, fragt man sich natürlich, ob hier nicht politische Interessen der einen oder anderen Seite im Spiel sind.

Teloeken: Wir sind laut Statut eine humanitäre Organisation und müssen entsprechend handeln. Wir versuchen nach bestem Wissen und Gewissen entsprechend zu verfahren. Natürlich ist es schwer, den Überblick zu behalten, wenn es zu einer massenhaften Flucht kommt. Deshalb sind die Zahlen in einer akuten Nothilfesituation zunächst meist nur Schätzungen. Aber die Größenordnung ist von unseren Kollegen vor Ort bestätigt worden. Interessanterweise wird die Debatte über die Flüchtlingszahlen vor allem in Deutschland geführt.

tagesschau.de: Sie schließen also aus, dass diese Zahlen manipuliert worden sind?

Teloeken: Ich wiederhole: Der UNHCR hält die Zahlen für plausibel. Die Gründe habe ich Ihnen genannt.

tagesschau.de: Ähnlich umstritten waren Zahlen, die während des Ukraine-Konflikts veröffentlicht wurden. Hier sprach der UNHCR-Europachef, Vincent Cochetel, Anfang September gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von 814.000 Ukrainern, die Zuflucht in Russland gesucht hätten. Haben Sie hier auf eigene Erhebung zurückgegriffen oder auf Zahlen der russischen Regierung?

Teloeken: Wir haben uns zunächst mit den Binnenvertriebenen in der Ukraine beschäftigt. Dort sprechen wir heute von ungefähr 275.000 Betroffenen. Weil die Registrierung durch die Behörden vor Ort aber schwierig ist, vermuten wir sogar eine deutlich höhere Zahl. Wir haben dann drei Zahlen zu Menschen genannt, die ins Ausland gegangen sind, vor allem nach Russland. Das waren Menschen, die in Russland ein Schutzgesuch gestellt haben, Menschen, die einen Antrag auf einen anderen Aufenthaltstatus gestellt haben und Menschen, die im Zuge des visumsfreien Grenzübertritts nach Russland gekommen sind. Dazu gehörten natürlich auch die ersten beiden Gruppen sowie Touristen und Gewerbetreibende. Aber eben auch Menschen, die wegen des Konflikts mit einem Koffer über die Grenze nach Russland gegangen sind.

Die Frage ist: Wer wird nun als Flüchtling gezählt? Nur diejenigen, die am Ende offiziell anerkannt werden? Oder auch diejenigen, die einen anderen Aufenthaltstatus bekommen? Eine genaue Bezifferung ist schwierig. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die Zahlen von den russischen Behörden kommen. Aber auch sie halten wir für plausibel. Und wir haben nicht gesagt, dass es wegen des Konflikts eine Million Flüchtlinge gibt. Es kann sein, dass dann die Überschrift so lautet. Das ist aber nicht unsere Aussage.

tagesschau.de: Wenn Ihr Europachef aber sagt, eine Million Menschen hätten wegen des Konflikts ihre Heimat verlassen, liegt doch nahe, dass es so verstanden wird.

Teloeken: Wir sagen nicht, dass jeder dieser Menschen in Russland Zuflucht genommen hat. Aber wir sagen auch, dass die Zahl der visafreien Einreisen seit Beginn des Konflikts in den Blick genommen werden muss. Es wäre für die Dimension des Fluchtgeschehens insgesamt nicht stimmig, diese Zahl völlig außen vor zu lassen.

tagesschau.de: In ihrer Presseerklärung zu Flüchtlingssituation stand in der Tat, dass 814.000 Ukrainer im Zuge des Visa-freien Grenzübertritts nach Russland gekommen sind. Was mit so einer Presseerklärung geschieht, entzieht sich ja Ihrer Kontrolle. Für wie hoch halten Sie die Gefahr, dass solche Zahlen einen Konflikt zusätzlich dramatisieren?

Teloeken: Ziel der Presseerklärung war auch, die Arbeit des UNHCR in der Ukraine darzustellen. Die wollen wir nach einem UN-Appell ausweiten. Der ist aber kaum finanziert, und auch die russischen Behörden haben uns bislang nicht um Hilfe gebeten. Wir haben uns in der Berichterstattungspflicht gesehen, um das Gesamtbild zu komplettieren - mit aller Differenzierung.

tagesschau.de: Müssten Sie nicht deutlicher machen, wenn Zahlen, die unter dem hoch angesehen Kürzel UN herausgegeben werden, von Regierungen stammen?

Teloeken: Wir verweisen immer auf die Quelle. Aber wir erleben natürlich immer wieder, dass die Dinge dann zugespitzt und komprimiert werden. Das ist ein schwieriger Grat. Es gibt das berechtige Interesse der Öffentlichkeit, informiert zu werden. Und wir müssen weitergeben, was wir wissen, genauso wie das, was wir nicht einschätzen können - plausibel und transparent. Wenn es in einer Region in kurzer Zeit zu einer Massenflucht von Zehntausenden kommt, kann es immer Unschärfen geben. Ich meine aber, dass es uns insgesamt gelingt, das differenziert darzustellen.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 08. Oktober 2014 um 17:00 Uhr.