Interview zum Tag des Flüchtlings "Unsere Haltung ist beschämend"
Gerät Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen an seine Grenzen? Die Grünen-Politikerin Claudia Roth fordert gegenüber tagesschau.de, die Bundesrepublik müsse mehr Verantwortung übernehmen. Sonst drohe im Nahen Osten eine Katastrophe.
tagesschau.de: An vielen Orten dieser Welt fliehen Menschen vor Krieg, Unterdrückung und Hunger. Was geht Ihnen da am Tag des Flüchtlings durch den Kopf?
Claudia Roth: Mir geht durch den Kopf, dass die Welt offenbar aus den Fugen geraten ist. Über 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Wir erleben die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, und UN-Chef Ban Ki Moon appellieren eindringlich an die Weltgemeinschaft, die Augen nicht länger davor zu verschließen.
Wenn ich dann sehe, wie Europa und wie wir Deutschen als eine der reichsten Industrienationen auf die Not reagieren, schäme ich mich für unseren Umgang, der Schutz und Hilfe oftmals verweigert.
tagesschau.de: Laut aktuellem Deutschlandtrend sagen über 40 Prozent der Deutschen, wir können keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Wie erklären Sie sich das?
Roth: Halten wir zunächst fest, dass umgekehrt 48 Prozent der Menschen in Deutschland sagen: 'Ja, wir können und wollen mehr Flüchtlinge aufnehmen'. Die Einstellung gegenüber Flüchtlingen hat sich also in Deutschland zum Positiven verändert.
tagesschau.de: Fast genau so viele sehen es anders. Dabei sind wir eines der reichsten Länder. Woran liegt das?
Roth: Das liegt auch daran, wie bei uns über das Thema Flüchtlinge gesprochen wird. Die Politik vermittelt den Menschen, es gebe viele Flüchtlinge, die gar keine echten Flüchtlinge seien, weil sie gar nicht verfolgt werden. Sie kämen nur her, um von unserem Reichtum zu profitieren. Nehmen Sie nur die Kampagne der CSU in Bayern: "Wer betrügt, fliegt!". Das ist unverantwortlich. Da werden Menschen in Not stigmatisiert.
Auch die Gesetzgebung der Bundesregierung in diesem Bereich geht eher den Weg, Asylrecht einzuschränken, und damit den Eindruck zu erwecken, es seien schon viel zu viele bei uns. Ich glaube, wir Politiker haben eine andere Aufgabe: Wir müssen werben und überzeugen und auf Solidarität setzen, statt die Abwehrhaltung noch zu schüren. Wir müssen den Menschen vermitteln, dass Deutschland in der Flüchtlingspolitik mehr Verantwortung übernehmen muss und auch kann.
"Das Thema Flüchtlinge wurde ausgeblendet"
tagesschau.de: Muss die Politik nicht aber auch die Sorgen der Menschen bezüglich zu vieler Flüchtlinge ernst nehmen?
Roth: Es ist ein großer Unterschied, ob Politiker Sorgen ernst nehmen oder Sorgen schüren. Leider geschieht hier in Deutschland oft das Zweite. Wir sehen das bei der rechtspopulistischen AfD besonders deutlich, die mit Ressentiment und Rassismus im Nadelstreifenanzug Politik betreibt. Viel wird davon abhängen, wie die anderen konservativen Parteien mit der AfD umgehen. Ob sie in das gleiche Horn blasen oder ob sie Aufklärungsarbeit leisten und signalisieren: 'Wir haben die Möglichkeit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen'. Stattdessen haben wir es mit einer Politik zu tun, die das Grundrecht auf Asyl mehr und mehr infrage stellt. Das sind die falschen Signale.
tagesschau.de: Dennoch sind viele Kommunen derzeit mit der Flüchtlingssituation überfordert. Warum sind wir so schlecht vorbereitet?
Roth: Da laut EU-Recht die Flüchtlinge in dem Land, das sie zuerst betreten, Asyl beantragen müssen und wir Deutschen keine EU-Außengrenzen haben, ging bei uns die Zahl der Asylsuchenden zurück. Deutschland, aber auch die Länder und Kommunen haben sich buchstäblich sicher vor Flüchtlingen gefühlt und über deren Unterbringung gar nicht mehr nachgedacht.
Asylbewerber würden in der Politik oft stigmatisiert, so Roth. Das schüre Ressentiments.
Das Thema wurde mehr und mehr ausgeblendet. Asylbewerberheime wurden geschlossen, Unterbringungsmöglichkeiten abgebaut. Menschen, die im Bereich Asyl arbeiteten, wurden entlassen oder deren Verträge nicht verlängert, weil kein Bedarf da zu sein schien. Diese Haltung hatte aber mit der tatsächlichen weltweiten Flüchtlingssituation rein gar nichts zu tun.
Innenminister Thomas de Mazière hat in den vergangenen Tagen die Flüchtlingspolitik ins Visier genommen und sich dafür ausgesprochen, dass wir eine andere Verteilung in Europa brauchen. Da bin ich bei ihm. Aber das darf nicht heißen, dass wir weniger Menschen aufnehmen, sondern im Gegenteil: Wir müssen sehr viel mehr Menschen als bisher aufnehmen.
Katastrophale Zustände in den Flüchtlingsheimen
tagesschau.de: Liegen die Bedenken vieler Menschen auch daran, wie das Land mit Asylsuchenden umgeht? Die Flüchtlinge kommen in Heime, sie sind abgeschottet von der Bevölkerung. Organisieren wir die Aufnahme von Flüchtlingen richtig?
Roth: Die Flüchtlingsaufnahme und -unterbringung bei uns gehorcht in vielen Fällen immer noch dem Grundsatz der Abschreckung. Seit Jahren weisen Experten darauf hin, dass die Unterbringung in zentralen Flüchtlingsheimen teurer ist, als eine dezentrale Unterbringung. Die Bedingungen in den Unterkünften, die oft auch viel zu klein sind für die vielen Menschen, sind oft katastrophal und entwürdigend. Und das schürt natürlich Konflikte.
Oder nehmen wir das Asylbewerberleistungsgesetz, das vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungskonform eingestuft wird, weil es einen Zustand zweiter Klasse schafft. Es definiert für Flüchtlinge ein anderes Existenzminimum als für deutsche Staatsbürger. Das ist absurd. Auch das Arbeitsverbot für Flüchtlinge muss vom Tisch. Wir sollten dafür sorgen, dass die Menschen, die hier Zuflucht suchen, selber etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen können, dass sie sich einbringen können in die Gesellschaft. Wir machen im Bereich Flüchtlingspolitik viele Fehler.
"Es droht ein noch größerer Flächenbrand"
tagesschau.de: Es gibt Stimmen, die sagen es sei besser, den Menschen vor Ort zu helfen - und eine schnelle Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. Was ist Ihre Meinung?
Roth: Wenn wir auf den Nahen Osten schauen, so sind die Nachbarländer Türkei, Jordanien, Libanon oder Kurdistan-Irak komplett überfordert. Die Türkei hat allein in den vergangenen Tagen mehr als 140.000 Flüchtlinge aufgenommen - das sind mehr als es in Deutschland im ganzen Jahr 2013 Asylanträge gab. Oder der Libanon: Dort gibt es etwas mehr als 4,2 Millionen Einwohner, aber schon im Januar waren dort eine Million Flüchtlinge aus Syrien registriert. Es besteht die Gefahr, dass der Libanon, Jordanien oder der Nordirak angesichts der Flüchtlingsströme kollabieren. Die gesamte Infrastruktur bricht bei diesen Menschenmassen zusammen. Die Länder sind auf diese Belastung überhaupt nicht vorbereitet und können das allein gar nicht stemmen.
Wenn die reichen Industrienationen nicht handeln, dann brechen dort ganze Regionen auseinander und es entsteht ein noch größerer Flächenbrand. Die Aufnahme von Flüchtlingen hier in Europa und Deutschland ist nicht nur eine humanitäre Aufgabe, sondern eine politische Notwendigkeit, um die Lage im arabischen Raum nicht weiter eskalieren zu lassen. Wir steuern auf eine politische Katastrophe zu.
tagesschau.de: Die Grünen haben vergangene Woche im Bundesrat dem Prinzip der sicheren Herkunftsländer zugestimmt. Haben sich die Grünen aus der Asylpolitik verabschiedet?
Roth: Es waren nicht die Grünen, die zugestimmt haben, es war ein grün-mitregiertes Bundesland. Alle grünen Gremien und anderen Landesverbände haben sich gegen dieses Gesetz entschieden. Die Grünen verabschieden sich also beileibe nicht von dem Anspruch einer anderen Asylpolitik. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn es ringsherum brennt. Und wenn das UNHCR sagt, wir erleben die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg, dann wissen wir: Es brennt bereits lichterloh.
Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de