Umberto Eco im Gespräch "Die Solidarität in Europa nimmt ab"
Er sei ein Pionier Europas und ein überzeugter Europäer, sagte Umberto Eco über sich selbst. Im September 2015 sprach Tilmann Kleinjung mit dem Bestseller-Autor - über italienische und europäische Politik, alte Erfolge - und über sein letztes Werk "Nullnummer".
ARD: In Ihrem neuen Buch geht es um eine Zeitung, die nie erscheinen wird und soll. Wie kommen Sie auf diese Idee?
Umberto Eco: Nun, oft werden Zeitungen für Erpressungen benutzt, die Veröffentlichung ist dann nicht mehr nötig. Mich hat eine wahre Begebenheit inspiriert. Es gab in den 70er-Jahren einen Herren namens Pecorelli, der eine Art Presseagentur betrieb. Er gab jeden Tag ein Bulletin heraus. Und dieses Bulletin wurde nicht veröffentlicht, man bekam es an keinem Kiosk, es landete nur auf den Schreibtischen der Politiker und ließ durchblicken, dass Pecorelli einen Tick mehr wusste und deshalb Geld erwartete. Eines Tages ist Pecorelli ermordet worden. Wie Sie sehen, kann man auch erpressen, ohne zu veröffentlichen. Die Drohung allein, es könnte in der Zeitung landen, reicht aus.
Von Berlusconi, Murdoch, Mogulen
ARD: Soll der Verleger Vimercate in ihrem Roman an den Medienmogul Silvio Berlusconi erinnern?
Eco: Nun, wenn Sie so wollen, ja. Doch der Grundsatz ist: Solche Typen gibt es viele. Denken Sie doch nur an Rupert Murdoch. Wenn die Deutschen eine Leidenschaft für Berlusconi entwickelt haben, dürfen sie gern an Berlusconi denken. Sollte mein Buch allerdings ein Jahrtausend überleben - oder gar so lange wie die Gedichte Homers - wird sich keiner mehr an Berlusconi erinnern, doch der Verleger in meinem Buch wird eine Spezies Mensch sein, die es auch dann immer noch gibt.
ARD: Ihr Roman spielt im Jahr 1992 - am Ende der sogenannten ersten Republik. Ein Jahr der Wende, nachdem dieser gigantische Skandal um Korruption, Amtsmissbrauch, illegale Parteifinanzierung aufgeflogen ist. Wissen Sie noch, was Sie damals empfunden haben?
Eco: Man hatte den Eindruck, es gebe tatsächlich eine Wende. Politiker, die bis dahin unantastbar waren, wurden vor Gericht gebracht. Aber es ist nichts passiert. Es gibt weiter Korruption - mit einem kleinen Unterschied: Bis 1992 wurden die Politiker geschmiert und finanzierten damit ihre Parteien. Heute geben sie das Geld für sich aus.
Die kollektive Ethik hat Schaden genommen
ARD: Mit dem Jahr 1992 begann auch der Aufstieg Berlusconis. Hat Berlusconi Italien verändert oder ist er nur Ausdruck dafür, dass sich Italien verändert hat?
Eco: Meiner Meinung nach war und ist er ein extrem schlauer Mann, der den Gang der Dinge durchblickt und sich zu Nutze macht. Er hat verstanden, dass er mit dem Versprechen, keine Steuern mehr bezahlen zu müssen, Erfolg haben würde. "Ihr seid unschuldig!" Das war seine Botschaft. Er ist dafür verantwortlich, dass die kollektive Ethik Schaden genommen hat.
ARD: Jetzt will Matteo Renzi Italien reformieren, in eine andere Richtung bringen. Was halten Sie von Renzi?
Eco: Renzi hat den Verdienst, Beschleunigungen durchgesetzt zu haben. Ob gute oder schlechte, er führt Reformen durch. Berlusconi hat 20 Jahre welche versprochen, aber nie welche durchgeführt. Renzi ist also der erste durchsetzungsfähige Politiker nach den Politikern der Nachkriegszeit, mit allen Fehlern, allen Problemen. Wenn man es pessimistisch ausdrücken will: Er ist ein notwendiges Übel.
Verliert Europa den Sinn für Solidarität?
ARD: Sprechen wir über Europa, das in einer schweren Krise steckt. Zuerst Griechenland, aber jetzt vor allem in der Flüchtlingskrise scheinen sich die europäischen Partner auf keine gemeinsame Linie verständigen zu können. Ist das Projekt Europa gescheitert?
Eco: Ich bin ein Pionier Europas, wir waren schon immer eine besondere europäische Generation. Ich bin von jeher ein überzeugter Europäer. Gemeinsam mit Habermas habe ich viele Initiativen unterstützt. In diesem Moment bin ich sehr pessimistisch, weil der Sinn für Solidarität abnimmt. Und ohne Sinn für Solidarität funktioniert Europa nicht mehr. Deshalb bin ich gerade sehr besorgt.
ARD: In Deutschland verbindet jeder mit dem Namen Umberto Eco Ihren Bestseller "Der Name der Rose". Nervt Sie das?
Eco: Und wie! Wenn ich von all meinen Romanen nur einen retten könnte, würde ich das "Foucaultsche Pendel" retten und nicht den "Namen der Rose". Der Roman gefällt mir besser, er ist reifer. Doch das ist ein Schicksal, das viele Schriftsteller teilen. Gabriel Garcia Márquez hat wunderschöne, sehr gute Romane geschrieben, "Hundert Jahre Einsamkeit" ist geblieben. Vielen ist das so ergangen. Das Problem ist, man müsste nicht mit dem ersten, sondern erst mit dem letzten Erfolg haben. Wehe Dir, wenn du mit dem ersten Buch Erfolg hast!
Das Interview führte Tilmann Kleinjung, ARD-Hörfunkstudio Rom.