Ukraine und Russland Weder Brüder noch Intimfeinde
Nicht erst seit dem Donbass-Konflikt gibt es zwischen Russland und der Ukraine Feindseligkeit und Ressentiments. Die Menschen in beiden Ländern sehen einander aber nicht als Feinde.
Russland und die Ukraine - wer die beiden Länder in einem Atemzug nennt, denkt seit mehreren Jahren fast automatisch an den derzeit einzigen militärischen Konflikt mitten in Europa. Seit der Annexion der Krim und dem Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine sind aus Nachbarn erbitterte politische Gegner geworden - so legt es zumindest die kriegerische Rhetorik beider Staaten seit 2014 nahe. Tatsächlich verlief die Geschichte der Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen nie ohne Spannungen - von einer Feindschaft zwischen zwei Völkern würde in den Zivilgesellschaften beider Länder aber kaum jemand sprechen.
Gemeinsame Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie und des russischen Lewada-Zentrums, das der Kreml 2016 zum "ausländischen Agenten" erklärte, deuten sogar eher auf das Gegenteil hin: Im September 2019 gaben 56 Prozent der Russen an, sie stünden den Ukrainern allgemein positiv gegenüber. Zugleich erklärten 54 Prozent der Ukrainer, sie wären den Russen gegenüber positiv eingestellt. So freundlich waren die Befragten einander im Langzeitvergleich seit dem Frühjahr 2014 nicht mehr gesinnt gewesen - damals hatten die Sympathien auf beiden Seiten rapide abgenommen.
Menschen in der Krim-Stadt Sewastopol, die sich zum vierten Jahrestag der Annexion versammelt haben. Die Ukraine fordert die Rückgabe der Halbinsel - in Moskau steht das nicht zur Debatte.
Dennoch erreicht dieses Freundschaftsbarometer bei weitem nicht den Stand vor dem Euromaidan und der Krimkrise. Beide Meinungsforschungsinstitute bewerten die Ergebnisse unterschiedlich: Das russische Lewada-Zentrum hebt hervor, dass sich die Zahl der freundlich gegenüber den Ukrainern eingestellten Russen seit Februar 2019 fast verdoppelt habe. Damals stieg im ukrainischen Präsidentschaftswahlkampf die Hoffnung auf einen Wandel in der Russlandpolitik. Das Kiewer Internationale Institut für Soziologie hingegen betont, dass seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2008 die Einstellung der Ukrainer zu den Russen stets positiver gewesen sei als umgekehrt - und sich dies nun erstmals umgekehrt habe.
Kriegsmüdigkeit in beiden Ländern
"Die russische Gesellschaft hat die Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum Präsidenten mit Begeisterung und Sympathie aufgenommen", meint der Politikjournalist Konstantin Skorkin. Er wurde im derzeit von Separatisten kontrollierten Luhansk geboren. Mittlerweile lebt und arbeitet er in Moskau. Er selbst müsse in Russland nur selten erklären, auf welcher Seite er stehe - "das hängt eher von der politischen Einstellung der Leute als von ihrer nationalen Herkunft ab", sagt er. Angesichts immer offensichtlicherer Probleme im eigenen Land seien immer mehr Russen die endlosen Ukraine-Festspiele im Staatsfernsehen müde.
In Russland sähen fast alle die Ukraine als "sehr ähnliches und nahestehendes Land" an. Sie leiten daraus laut Skorkin aber verschiedene Dinge ab: Demokratisch eingestellte Menschen hätten den Wahlsieg Selenskyjs als Triumph freier Wahlen und als Abschied von alten Machteliten begrüßt. Für den Kreml hingegen sei dies ein "Negativbeispiel", gegen das traditionelle Methoden der politischen Meinungsmache nur noch schwer ankämen: "Selenskij hat die russische Propaganda in eine Sackgasse getrieben", sagt er.
Kriegstreiberei wird Machteliten zugeschrieben
Vergleichbares hat auch Julija Bidenko in der Ukraine beobachtet. Die Politikwissenschaftlerin an der Nationalen Karasin-Universität in Charkiw sagt: "Im Bewusstsein der ukrainischen Gesellschaft gibt es zwei getrennte Einstellungen zu den Russen und zum Kreml." Viele Ukrainer seien sich darüber bewusst, dass Russland autoritär regiert werde und es dort keine freien Wahlen gebe. Deshalb machten sie die Wiederwahl Wladimir Putins zum Präsidenten den russischen Bürgern nicht zum Vorwurf - man wisse ja, wie es sei, unter Repressionen zu leiden.
Das aktuelle Sympathie-Hoch in Umfragen deckt sich laut Bidenko mit Selenskyjs Botschaft "Es ist Zeit für Frieden": Viele Ukrainer seien kriegsmüde und hielten den Konflikt für "von korrupten, schurkenhaften Machteliten getrieben". In ihrer Stadt Charkiw, die 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, sei in Gesprächen jetzt häufiger zu hören, dass die Leute wieder zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Russen bereit seien. Denn von der Annäherung an die EU seit 2014 habe die Region in der Ostukraine nicht profitiert.
Historische Ressentiments sitzen tief
Sowohl Skorkin als auch Bidenko merken jedoch an, dass sich innerhalb der Ukraine die Einstellung zu Russland im Osten und Westen des Landes bis heute unterscheidet - und dass es sowohl in der Ukraine als auch in Russland noch immer starke radikale Kräfte gibt, die gegenseitigen Hass schüren.
Auf beiden Seiten der Grenze gehen Schimpfworte und Klischees noch immer leicht von der Zunge: Russen, die Ukrainer verunglimpfen, nennen sie abfällig "Chochly" (Kosakenlocken) oder "Ukropy" (nach dem in der Ukraine beliebten Gewürz Dill) - und überhaupt sei Ukrainisch keine Sprache, sondern ein bäuerlicher Dialekt des Russischen. Ukrainer mit Ressentiments gegen Russen sprechen von "Moskaly" (nach den Einwohnern des historischen Großfürstentums Moskau) oder "Watniki", den einfältigen Untertanen des sowjetischen Totalitarismus - und nach 2014 bezeichneten nicht wenige Putin als "Putler".
"Viele ukrainische Historiker betreiben eine Viktimisierung", sagt Bidenko dazu. "Sie zeichnen die Ukraine als ewiges Opfer der russischen Aggression." Ein Beispiel dafür ist etwa der Nationalist Stepan Bandera, der gegen die Kommunisten kämpfte und dafür mit den Nationalsozialisten paktierte - oder der "Golodomor", eine künstlich erzeugte Massenhungersnot in der Ukraine während des Stalin-Terrors, die von Russland nie als solche anerkannt wurde.
"Russland ist ein Agressor" steht auf dem Plakat, das ein Mädchen bei einer Protestaktion nahe der russischen Botschaft in Kiew in die Höhe hält. Die Ukraine sieht sich gegenüber Moskau in einer historischen Opferrolle.
Abkehr von der "Bruderschaft"
Trotz der jetzigen Kriegsmüdigkeit und Sympathie lieegt ein tiefgreifender "Wandel durch Annäherung" zwischen Russland und der Ukraine noch immer fern. Zwar kommt eine Studie des kremlnahen Meinungsforschungsinstituts WZIOM sogar auf noch optimistischere Werte: Einer Umfrage aus dem Juli zufolge halten 85 Prozent der Russen freundschaftliche Beziehungen zu der Ukraine für wichtig. Allerdings sehen 44 Prozent insbesondere die ukrainische Seite in der Verantwortung dafür, dass das auch so kommt. 42 Prozent der Russen meinen demnach, dass die Beziehungen sich normalisieren können, aber nie mehr das Niveau "brüderlich oder verbündet" erreichen werden.
Auch Skorkin ist skeptisch, was eine Aussöhnung anbelangt: Dem Kreml könne es schließlich nicht gefallen, dass Russlands Bürgerinnen sich den ukrainischen Reformkurs zum Vorbild nähmen und an ihr eigenes Land ukrainische Maßstäbe anlegten.
Bidenko findet: Für ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Kiew und Moskau müsse Russland erst die Krim zurückgeben und dann einen liberalen, demokratischen Präsidenten wählen - beides steht in Russland momentan nicht zur Debatte. Sie meint: "Vielleicht wird es eine Generation dauern, bis sich die Beziehungen wieder auf das einstige Maß verbessern."