Interview

Massenproteste in der Ukraine "Janukowitsch ist nicht das Problem"

Stand: 02.12.2013 15:50 Uhr

In Kiew fordern Zehntausende Regierungsgegner den Rücktritt der Regierung. Doch über alles weitere ist die Opposition uneins, sagt der Ukraine-Experte Kyryl Savin im Interview mit tagesschau.de. Die Bevölkerung wünsche sich einen politischen Neuanfang, die Opposition nur einen Regimewechsel.

tagesschau.de: Sie sind in den vergangenen Tagen immer wieder auf dem Maidan-Platz in Kiew gewesen - was zeichnet die Protestbewegung aus, die sich dort zusammengefunden hat?

Kyryl Savin: Die Demonstranten kommen aus allen Altersgruppen und aus allen Landesteilen, viele natürlich aus Kiew selbst und aus dem Westen des Landes, aber viele sind auch aus dem Osten und Südosten der Ukraine gekommen. Nach meinem Eindruck sind am Wochenende sogar mehr Menschen auf die Straße gegangen als bei der "Orangenen Revolution" 2004. Und sie haben friedlich demonstriert. Ihre Forderungen sind eindeutig: Der Präsident und die Regierung müssen zurücktreten, es muss Neuwahlen für das Präsidentenamt und das Parlament geben.

Zur Person

Dr. Kyryl Savin leitet die Vertretung der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Zuvor war er für die deutsche Botschaft in der ukrainischen Hauptstadt tätig und beriet als Mitglied der Deutschen Beratergruppe Wirtschaft die ukrainische Regierung.

tagesschau.de: Wie groß ist der Rückhalt in der Bevölkerung?

Savin: Nach meiner Wahrnehmung unterstützen in Kiew und im Westen des Landes fast alle Bürger die Demonstranten, im Osten und Südosten des Landes etwa die Hälfte. Präsident Janukowitsch selbst kommt ja aus dem Gebiet Donezk. Dort gibt es im Unterschied zur Hauptstadt und zum Westen des Landes keine Tradition des Protestes. Sie sind vorsichtiger, auch weil der Ausgang des Protests nicht abzusehen ist. Zugleich sieht man dort auch keine Gegenproteste. Alle Versuche, öffentliche Unterstützung für Janukowitsch zu mobilisieren, waren künstlich und organisiert.

tagesschau.de: Ist der Protest mit dem Aufstand von 2004 vergleichbar?

Savin: Es gibt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Vor neun Jahren sind die Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Fälschung bei der Präsidentenwahl zu protestieren. Vor dem EU-Gipfel zur Ost-Partnerschaft haben die Menschen für eine Assoziierung mit der Europäischen Union und vielleicht irgendwann einen Beitritt zur EU demonstriert. Erst seitdem Janukowitsch das Assoziierungsabkommen nicht unterschrieben hat und dann Sondereinheiten der Miliz die Demonstraten auf dem Maidan-Platz brutal auseinandergetrieben haben, geht es um einen Regierungswechsel. Die Menschen sind wütend, weil  sie das Gefühl haben, dass Janukowitsch ihnen nicht zuhört und Gewalt gegen friedliche Demonstranten einsetzt. Natürlich steht hinter der Forderung nach einem Rücktritt die Hoffnung, dass eine andere Regierung doch noch ein Assoziierungsabkommen unterschreiben wird.

"Janukowitsch kann die Proteste nicht ignorieren"

tagesschau.de: Wie realistisch ist die Rücktrittsforderung?

Savin: Janukowitsch scheint dazu derzeit nicht bereit und ignoriert die Proteste bislang. Wenn aber bis zu einer Million Menschen auf die Straße gehen und klare Forderungen erheben, kann das kein Präsident übergehen.

tagesschau.de: Welchen Spielraum hat Janukowitsch noch, wo er alles auf die Karte Russland gesetzt hat?

Savin: Janukowitsch hat keinen echten Deal mit Russland gemacht und von dort nicht viel bekommen. Die langen Verhandlungen über einen neuen Gasvertrag sind ohne Ergebnis geendet. Auch Kredite, die die Regierung zur Verbesserung der Finanzlage dringend braucht, hat er nicht bekommen. Janukowitsch steht insofern weiter zwischen Brüssel und Moskau. Es ist schwer einzuschätzen, welche Schritte er ergreifen wird, zumal er seit Tagen schweigt und sich nicht zu den Protesten äußert.

Stephan Laack, S. Laack, WDR Moskau, 02.12.2013 07:01 Uhr

tagesschau.de: Nach der Präsidentenwahl 2010 hat Janukowitsch Bergarbeiter aus dem Osten des Landes nach Kiew geholt, um die Plätze in der Hauptstadt zu besetzen und eine neue Protestbewegung gegen seine Person zu verhindern. Könnte er wieder zu solchen Maßnahmen greifen?

Savin: Das ist nicht ausgeschlossen, zumal es in der vergangenen Woche erste Versuche gab, junge, gewaltbereite Unterstützer aus Donezk mit dem Bus in die Hauptstadt zu bringen. Es waren aber insgesamt nur wenige, die kamen, und sie wurden auch nicht entsprechend eingesetzt. Ich hoffe auch, dass die empörten Reaktionen vieler Bürger auf die Gewalt vom Wochenende Janukowitsch davon abhalten wird, ein solches Szenario umzusetzen.

"Die Opposition hat drei Gesichter"

tagesschau.de: 2004 hatte die Revolution ein Gesicht, nämlich das der späteren Präsidenten Juschtschenko - wer ist heute das Gesicht des Aufbegehrens?

Savin: Es gibt mehrere Gesichter, und das ist ein Problem. Die Opposition besteht aus drei Parteien - das ist Witali Klitschko von der Partei Udar, Arseni Jasenjuk von Timoschenkos Baktiwschtschina (Vaterland)-Partei und Oleg Tjagnibok von der rechtsradikalen Swoboda (Freiheit)-Partei. Sie sind in vielen Fragen uneins - Klitschko etwa setzt im Gegensatz zu den anderen weniger auf die nationalistische Karte. Die Opposition hat keine feste Strategie, und deswegen fragen sich viele, wie es weitergehen wird und ob man diesen Leuten trauen kann.

tagesschau.de: Steht dahinter die Angst, dass sich die Erfahrung von 2004 wiederholen kann, als nach dem Regierungswechsel das politische Chaos anhielt?

Savin: Viele befürchten, dass es vielleicht  zu einem Regierungswechsel kommen könnte, aber kein Systemwechsel stattfindet. Jedem Bürger ist klar: Präsident Janukowitsch ist nicht das eigentliche Problem. Das politische System ist so schief gebaut und korrupt, dass nur ein Neustart mit neuen Strukturen, neuen Gesichtern und neuen Parteien helfen kann. Die Opposition scheint daran kein Interesse zu haben. Sie will nur Janukowitsch stürzen und dann die vielen Ämter übernehmen, die jetzt andere innehaben. Die Bevölkerung wünscht sich, dass das politische System demokratisch, transparent und fair wird.

tagesschau.de: Das wäre aber ein sehr langer Prozess, der sich, wenn überhaupt, über viele Jahre hinziehen würde.

Savin: Ein Mittel könnte ein Lustrationsverfahren sein, eine Art politische Reinigung,  die dazu führen könnte, dass Angehörige des Janukowitsch-Regimes keine Aufgaben mehr in einer neuen Regierung übernehmen können. Diese Proteste waren nicht vorbereitet, deswegen gibt es keinen detaillierten Plan, und das macht alles noch schwieriger.

tagesschau.de: Ist auch wegen der Hoffnung auf einen Neuanfang der Wunsch nach einer Annäherung an die EU so groß?

Savin: Die Annäherung an die EU würde die Chance auf eine Modernisierung der Ukraine eröffnen. Man könnte Schritt für Schritt europäische Gesetze einführen und dringend notwendige Reformen einleiten, damit dass Volk besser leben kann, demokratischer und freier.

Das Interview führte Eckart Aretz, tagesschau.de