Neutralitätsdebatte in Österreich "Wir sollten uns raushalten"
Finnland und Schweden wollen ihre Neutralität aufgeben und der NATO beitreten. Im neutralen Österreich hat sich die Debatte ebenfalls entzündet. Doch so weit wie die Skandinavier ist die Alpenrepublik noch nicht.
Für Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer war die Sache eigentlich klar: "Österreich war neutral, Österreich ist neutral und Österreich wird auch neutral bleiben." Das war kurz bevor Nehammer Putin in Moskau ins Gewissen redete - ergebnislos. Ergebnislos wie dieser Versuch des ÖVP-Kanzlers, die Diskussion im Land um Österreichs Neutralität wegzutreten. Sie schwelt einfach weiter.
Gerade lodert ein offener Brief von 50 prominenten Österreicherinnen und Österreichern an den Bundespräsidenten durch die politische Landschaft - von Wissenschaftlern, Diplomatinnen, Autoren, Ex-Politikerinnen. Sie fordern Österreichs Bundespräsidenten Alexander van der Bellen auf, unabhängige Experten prüfen zu lassen, ob Österreichs "Neutralität" noch zeitgemäß sei. Begründung: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sei der letzte Warnruf an die freie Welt, der auch Österreich angehört.
Bundesheer soll nachgerüstet werden
Walter Feichtinger, Ex-Brigadier des Bundesheers, also aus der Generalsriege, jetzt unterwegs als Sicherheitsexperte, hat mit unterschrieben: "Die Neutralität muss befreit werden von dem Mythos. Weil wir, automatisch, wenn wir 'Neutralität' hören, sicher sind - wir brauchen nicht viel auszugeben. Das war doch die letzten Jahrzehnte so." Und damit müsse es jetzt vorbei sein.
Das mit dem Geld will Nehammers Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, ÖVP, jetzt schnell ändern. Zehn Milliarden Euro will sie zusätzlich ausgeben, um nachzurüsten, was die letzten Jahre vielleicht zu viel weggespart wurde beim österreichischen Bundesheer. Arbeitstitel: "Neutralitätspaket".
Außerdem will sich Österreich zumindest in die Nähe robben der sonst von NATO-Mitgliedern erwarteten Militärausgaben. Zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt sind erwünscht, 1,5 Prozent nimmt sich Österreich in den kommenden Jahren vor.
75 Prozent der Bevölkerung für neutralen Status
Am "militärisch" neutralen Status solle das aber nichts ändern, sagt die Ministerin der Volkspartei in Brüssel - am Rande einer EU-Tagung der EU-Verteidigungsministerinnen - dem ORF. Die Botschaft geht an die Österreicherinnen und Österreicher: "Wir wissen ja auch, wie der Zugang der Österreicherinnen und Österreicher zur Neutralität ist - viel mehr als das, was in der Verfassung festgelegt ist, das liegt im Herzen der Österreicher!"
Aktuelle Umfragen bestätigen das. Anfang Mai sprachen sich Dreiviertel der befragten Österreicherinnen und Österreicher weiter gegen einen NATO-Beitritt ihres Landes aus. "Wir sollen neutral bleiben. Wir sollen uns raushalten", so eine Frau um die 50. Auch ein junger Mann findet: "Ich bin dafür, dass die Neutralität beibehalten wird und wir nicht der NATO beitreten."
Auch Opposition für Beibehaltung der Neutralität
Die mit den Grünen regierende ÖVP will das nicht, die Opposition im Nationalrat, dem österreichischen Parlament, auch nicht. Allerdings mit unterschiedlicher Argumentation: Der Parteichef der rechtspopulistischen FPÖ, Herbert Kickl, stellt sich gern und schnell mit auf das Trittbrett, das ihm die Meinungsumfragen bieten: "Weil ich nicht haben will - und da spreche ich auch als Familienvater - sage ich Ihnen ganz ehrlich, dass mein Sohn, dass die Buben, die da einrücken müssen in Österreich, dann unter NATO-Kommando irgendwo in der Welt unter irgendwelchen Vorwänden Krieg führen müssen."
Kickl trifft einen Nerv, auch wenn er bewusst "Verteidigung" - das ist der definierte Daseinszweck des NATO-Bündnisses - mit "Krieg" übersetzt.
Die SPÖ-Opposition formuliert staatstragender. "Neutral" bleiben heiße, Österreich könne weiter wichtige Beiträge leisten, als Gastgeber für konfliktlösende Gespräche, zum Beispiel. So Jörg Leichtfried, Vize-SPÖ-Fraktionschef: "Man sieht das ja auch bei der Beschickung von internationalen Organisationen, wo Österreich und die Schweiz eigentlich über ihre Größe hinaus maßgeblich besetzt sind."
Aber nur "militärisch" neutral
Und Bundeskanzler Nehammer stellt in dem Zusammenhang gerne klar, es gehe nur um "militärische" Neutralität. Sonst sei man nicht so, also gar nicht neutral, wenn es um die Werte der Europäischen Gemeinschaft gehe, nur als ein Beispiel: "Die österreichische Neutralität war immer eine solidarische, solidarisch innerhalb der Europäischen Union, solidarisch mit den Vereinten Nationen, solidarisch mit der OSZE", der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Die 50 Briefschreiber diagnostizieren trotzdem: Damit werde Österreichs Neutralität nur zum "vermeintlich unantastbaren Mythos" erhoben. Manche sprechen auch von einer "Lebenslüge" der Republik. Wichtig, damals, 1955, um die Unabhängigkeit und Unteilbarkeit Österreichs zu sichern, nach den Besatzungsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Österreich könnte vielleicht auch anders. Nicht erst heute.
Diskussion schon vor 20 Jahren
Einer, der Verantwortung trug wie Nehammer, wollte die Diskussion lieber anstoßen. Österreichs "Neutralität" verglich er dabei mit "Mozartkugeln" und "Lipizzanern" - kann man mögen, muss man nicht: "Die alten Schablonen, ob das Mozartkugeln, Lipizzaner oder Neutralität sind, greifen in der komplexen Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht mehr."
Wolfgang Schüssel war das, ebenfalls von der österreichischen Volkspartei, damals ebenfalls Bundeskanzler - sehr lange vor Nehammer: 2001 war das, vor mehr als 20 Jahren. Übrigens in einer Koalition mit der rechtspopulistischen FPÖ. Also: kein Ende der Diskussion in Österreich um den "Mythos" Neutralität, ganz sicher nicht.