Das junge Tunesien nach Ben Ali "Wir werden nicht mehr schweigen"
Salma lebt in Tunesien. Aufgewachsen ist sie in einem Land, in dem es nur den mächtigen Clan um Präsident Ben Ali gab. Jetzt macht es sich auf den Weg in eine demokratische Zukunft. Und mit Salma entdeckt die "Facebook-Generation" ein ganz neues Gefühl: Stolz auf die eigene Heimat.
Von Alexander Göbel, ARD-Hörfunkstudio Rabat
Mit Jeans, schwarzem Pullover und Turnschuhen sitzt Salma in ihrem Lieblingscafé in Tunis und rührt versonnen in ihrem Espresso. In diesen Tagen braucht sie viel Zeit zum Nachdenken. Über Freiheit und was für einen Sinn man ihr gibt, wenn man sie eigentlich noch nie hatte. Und Salma braucht Zeit zum Staunen, darüber, wie rasend schnell sich Tunesien gerade verändert und was das alles für sie bedeutet.
Früher wollte sie um jeden Preis das Land verlassen, ins Ausland gehen, um zu studieren oder zu arbeiten, erzählt Salma. Jetzt möchte sie bleiben, um das Land wiederaufzubauen: "Das ist ein großartiges Land, die Menschen sind einfach super. Ich bin so dermaßen stolz, dass ich es gar nicht beschreiben kann - so ein Gefühl hatte ich noch nie."
Revolution hat das gesamte Leben verändert
Salma strahlt, wenn sie von ihrem Tunesien spricht, dem neuen Tunesien. Die "Jasmin-Revolution" hat alles auf den Kopf gestellt. Seit der ehemalige Präsident Ben Ali vor knapp vier Wochen aus dem Land geflohen ist, hat für die selbstbewusste 28-jährige Übersetzerin ein neues Leben angefangen: ein Leben ohne Angst, als ganz normaler junger Mensch in Tunesien. Sie kann es noch immer nicht glauben.
"Wir könnten dieses Gespräch niemals führen, wenn Ben Ali noch Präsident wäre", so Salma. "Man konnte früher in der Öffentlichkeit nicht einfach über Politik sprechen, sagen, dass man den Präsidenten nicht mag, dass er oder jemand aus seiner Familie etwas Böses getan hat oder dass man einen anderen Kandidaten wählen würde", erzählt die junge Tunesierin.
Über Facebook und Twitter hat Salma verfolgt, wie Mitte Dezember des vergangenen Jahres die Proteste im Landesinneren begannen, wie das Fernsehen die Selbstverbrennung des verzweifelten Obstverkäufers Mohamed Bouazizi zu einem tragischen Einzelfall kleinredete und wie dann der Druck der Straße immer größer wurde, so groß, dass das Ben Ali-Regime zusammenbrach.
Gedenken an den tunesischen Obstverkäufer Mohamed Bouazizi
Hoffnungen liegen auf Neuwahlen
Salma rollen die Tränen über das Gesicht. Noch nie im Leben ist sie zu einer Wahl gegangen, es hätte auch nichts gebracht. Wenn es tatsächlich in ein paar Monaten Neuwahlen gibt, will sie die Erste sein im Wahllokal. Doch Salma spürt, dass die Lage in Tunesien noch immer instabil ist, dass die Übergangsregierung Mühe hat, Ruhe ins Land zu bringen. Noch immer sind viele ihrer Freunde arbeitslos. Immer wieder kommt es noch zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Politikern ist groß.
Auch Salma hat Angst, dass der große Traum von Freiheit und Demokratie am Ende platzen könnte wie eine Seifenblase. Aber die junge Frau mit den schulterlangen dunklen Haaren ist sich sicher: Einen neuen Diktator werde es nicht geben. "Ich weiß, dass die Demokratie Zeit brauchen wird. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich die Tunesier nicht mehr auf den Füßen rumtrampeln lassen werden. Die Politiker werden sich ganz genau überlegen, was sie tun. Wir werden nicht mehr schweigen, das ist sicher", so Salma bestimmt.
Neue Erfahrung: Wir-Gefühl und Solidarität
Seit dem 14. Januar, als Tunesien Ben Ali davongejagt hat, entstehe ein ganz neues Miteinander, findet Salma. Es sei eine ganz neue Solidarität der Bevölkerung spürbar. Jeder achte plötzlich darauf, ob es dem anderen gut geht - nicht nur in ihrer Nachbarschaft in Tunis, sondern im ganzen Land und vor allem bei den Jugendlichen, die sich in den 23 Jahren der Herrschaft von Ben Ali oft ganz aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatten.
"Viele Jugendliche, die sich früher überhaupt nicht für Politik interessiert haben, fingen auf einmal an, gemeinnützige Vereine zu gründen. Ich habe selbst eine Spendenaktion für arme Familien und Krankenhäuser organisiert, und das ist unglaublich gut gelaufen. Ich habe von Firmen und vielen Einzelpersonen Spenden erhalten. Die Menschen wollen sich wirklich gegenseitig helfen."
Die Revolution hat vor allem bei den Jugendlichen für ein neues Wir-Gefühl gesorgt. Und dafür, dass sie von ausländischen Besuchern jetzt Schulterklopfen und Anerkennung ernten, wenn sie erzählen, dass sie aus Tunesien kommen. Aus dem Land, in dem die Menschen sich selbst befreit haben. Tunesien ist berühmt. Aber das war nicht immer so.
"Früher musste ich immer erst den Atlas auspacken und zeigen: Tunesien, das liegt im Maghreb", erklärt Salma. "Jetzt sage ich nur noch: Tunesien! Und jeder weiß, was los ist. Und wer es immer noch nicht kennt, der soll selber suchen, das ist mir egal", lacht die 28-jährige verschmitzt. "Das ist Tunesien, unser Tunesien, und wir sind wirklich sehr stolz darauf!"