Tunesische Verfassungsversammlung wählt neuen Staatschef Der Freiheitskämpfer Marzouki ist am Ziel
Verfechter der Menschenrechte, Arzt der einfachen Leute, Widersacher von Diktator Ben Ali - für viele Tunesier ist CPR-Parteichef Marzouki das perfekte Staatsoberhaupt. Nun ist der ewige Oppositionelle am Ziel. Er wurde zum neuen Staatschef im Land der Jasmin-Revolution gewählt.
Von Alexander Göbel, ARD-Hörfunkstudio Rabat
Es ist der 20. Januar 2011. Vor wenigen Tagen ist Ex-Diktator Ben Ali aus Tunesien geflüchtet. Moncef Marzouki will keinen Tag länger warten und kehrt zurück nach Hause - nach mehr als zehn Jahren im französischen Exil. Auf dem Flughafen von Tunis bricht Marzouki in Tränen aus: "Für mich ist das ein Tag großer Freude", sagt er. "Endlich bin ich frei in meinem Land. All die Menschen hier sind freie Bürger. Sie haben gekämpft, sie haben die Revolution gemacht." Es sei unbeschreiblich, seine Heimat endlich befreit zu sehen und Teil dieses großartigen Volkes zu sein.
Nicht einmal ein Jahr später ist der Mann mit der altmodischen, viel zu großen Brille am Ziel: Marzouki darf sein geliebtes Tunesien als Übergangspräsident anführen. Der 66-Jährige krönt damit seinen jahrzehntelangen Widerstand gegen Ex-Präsident Ben Ali. 1994 musste er als Vorsitzender der Tunesischen Liga für Menschenrechte vier Monate in Haft. Er hatte es gewagt, bei den Präsidentenwahlen gegen Ben Ali zu kandidieren.
Als Marzouki 2001 seine Partei CPR gründete, lässt Ben Ali diese Vereinigung sofort verbieten. Marzouki flieht nach Paris und organisiert von dort aus die Opposition. "Der CPR hat während der Diktatur eine wichtige Rolle gespielt und die Revolution mitgetragen", sagt er. Die Partei habe mit den Jugendlichen auf Facebook zusammengearbeitet, damit Ben Ali verschwände. "Diese Partei entspringt dem Widerstand und darauf bin ich stolz", betont Marzouki. Heute will der CPR mithelfen, dieses Land neu zu strukturieren.
Der CPR ist nach den Wahlen vom Oktober mit 29 Sitzen so etwas wie der Juniorpartner der übermächtigen Islamisten-Partei Ennahda, die 89 Sitze im Übergangsparlament besetzt und den Regierungschef stellt. Für seine Offenheit gegenüber den Islamisten wurde Marzouki oft kritisiert, andere dagegen loben seine Flexibilität beim Dialog mit dem politischen Islam. Kompromisslos hart ist Marzouki allerdings dann, wenn es darum geht, die Grundrechte und die individuellen Freiheiten der Tunesier zu verteidigen. Das haben auch die Islamisten schon zu spüren bekommen.
"Es geht mir darum, den Tunesiern ihre Würde zurückzugeben, dem Staat seine Legitimität und dem Volk seine Souveränität", betont Marzouki. Tunesien sei bisher eine als Republik getarnte Monarchie gewesen und man werde nun ein echtes demokratisches System aufbauen.
Marzouki gilt als selbstbewußter, eloquenter Intellektueller. Als schnörkellos und manchmal spröde, bekannt für sein soziales Engagement. Als er noch als Neurologe praktizierte, hat er viele Menschen kostenlos in den Bidonvilles - den ärmlichen Vorstadtsiedlungen - behandelt.
Marzouki gehört nicht zur neureichen Elite, trägt normal weder schwarze Anzüge noch Gel im Haar. Dafür immer noch seine alte Brille. Längst ist sie das Symbol seiner Partei CPR. Die Brille des Präsidenten hat sehr zur Freude der Karikaturisten Kultstatus erreicht. Als Marzouki eines Tages mit einem neuen, moderneren Gestell zu sehen war, hagelte es Proteste. Die Tunesier wollen ihren Moncef so, wie er immer war: geradlinig, ehrlich, engagiert und mit den alten Gläsern.
Er twittert fleißig über seine Arbeit als Präsident; auf Facebook hat er tausende Freunde. Für viele Tunesier ist dieser Arzt des Volkes genau der Richtige. Tunesien braucht den Doktor mit der großen Brille. Den Mann für den präzisen Befund und dem nötigen Durchblick in bewegten Zeiten.