Fünf Jahre EU-Beitrittsverhandlungen Enttäuschung verdrängt Euphorie in der Türkei
Seit fünf Jahren verhandelt die EU mit der Türkei über einen möglichen Beitritt. Regierungen wichtiger EU-Staaten sind aber gegen die Aufnahme des Landes in die Europäische Union. In der Türkei selbst machen sich trotz vieler Reformen Enttäuschung und Verdrossenheit breit.
Von Ulrich Pick, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Fünf Jahre nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen hat sich die Europa-Euphorie am Bosporus deutlich gelegt. Zwar dürften die meisten Türken nach wie vor eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union für erstrebenswert halten - eine wirkliche Alternative hierzu gibt es nicht. Doch es hat sich eine gewisse Verdrossenheit breit gemacht.
Von der einstigen EU-Begeisterung ist in der Türkei wenig übrig geblieben. (Archivbild)
Kaum offene Unterstützung für EU-Beitritt
Schließlich unterstützen immer weniger europäische Länder offen den Beitritt der Türkei. Die französische Regierung ist beispielsweise ebenso klar dagegen wie österreichische und die deutsche, welche einst unter Bundeskanzler Gerhard Schröder den Türken noch sichtbar den Rücken gestärkt hatte. Kein Wunder, dass türkische Bürger die Aufnahme ihres Landes in die Europäische Union in immer weitere Ferne schwinden sehen. "Lange haben die Medien es so dargestellt, als stünden wir jetzt kurz davor", sagt eine Passantin in Istanbul "Die Menschen sind verdrossen und es sieht auch so aus, als ob wir nicht reinkommen."
Die wachsende Enttäuschung hat zwei Ursachen. Da ist zum einen der sich verlangsamende Reformeifer der Regierung. So hat die Türkei zwar unter dem bekennenden Muslim Recep Tayyip Erdogan mehr Schritte in Richtung Brüssel gemacht als unter jeder Regierung zuvor. Doch waren die EU-Ambitionen in Ankara vor fünf Jahren deutlicher erkennbar als heute.
Türken fühlen sich hingehalten
Der zweite Grund ist, dass sich die meisten Türken immer wieder von der Europäischen Union hingehalten fühlen. Brüssel, so heißt es, messe mit zweierlei Maß und stelle ihrem Land stets neue Hürden in den Weg. So seien zwar Bulgarien und Rumänien, in denen nach wie vor eine stattliche Korruption blühe, bereits Mitglied in der EU. An der Türkei aber, der in internationalen Erhebungen eine rückläufige Korruption attestiert worden sei, habe die EU immer wieder etwas herumzunörgeln.
So ist es keine Überraschung, dass die Enttäuschung am Bosporus streckenweise gar in Wut umschlägt. Auf der Straße beklagen sich Passanten über das das ständige Hin und Her. "Steckt Euch die EU doch an den Hut!", lautet die Schlussfolgerung bei einigen. "Was kann die EU der Türkei denn geben? Gar nichts!"
Türkische Wirtschaft wächst stärker
Obgleich sich dieser Ton ausgesprochen harsch anhört, dürfte die Frage, was die EU dem Land geben kann, aus türkischer Perspektive eine gewisse Berechtigung haben. Denn in mindestens zwei Punkten hat man zurzeit am Bosporus ausgesprochen gute Karten. So wächst die Wirtschaft in der Türkei seit Jahren erheblich stärker als in der Europäischen Union. Sie verzeichnete im ersten Halbjahr 2010 ein Plus von rund elf Prozent. Zudem braucht man sich in der Türkei - anders als in der Europäischen Union - zurzeit keine Sorgen über eine sogenannte Überalterung der Gesellschaft zu machen.