Debatte um EU-Beitritt der Türkei Zwischen Fortschritt und Verärgerung
Seit Jahren verhandelt die Türkei mit der EU über eine Mitgliedschaft in der Staatengemeinschaft. Mit der Verfassungsreform hat das Land nun einen weiteren Schritt Richtung Brüssel getan. Doch mit den Chancen auf einen EU-Beitritt wächst der Ärger über den langsamen Verlauf der Verhandlungen.
Von Ulrich Pick, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Auch wenn es für mitteleuropäische Ohren widersprüchlich klingt: Unter dem bekennenden Muslim Recep Tayyip Erdogan, der seit Herbst 2002 türkischer Ministerpräsident ist, hat man am Bosporus mehr Schritte in Richtung Brüssel getan als unter jeder säkularen Regierung zuvor.
So ließ die islamisch-konservative AKP die berüchtigten Staatssicherheitsgefängnisse schließen und beschnitt die Kompetenzen des Militärs - vor allem im Nationalen Sicherheitsrat. Denn dieses Gremium, in dem die Armee bis vor wenigen Jahren noch die Majorität besaß, galt lange als die geheime Machtzentrale des Landes. Obgleich es nämlich nicht öffentlich tagte, hatten seine Entscheidungen über Jahrzehnte hin quasi Gesetzesmacht.
Fortschritte auch bei Meinungs- und Pressefreiheit
Heute hat der Nationale Sicherheitsrat seinen Einfluss verloren. Denn die Türkei scheint gelernt zu haben, was auch für andere westliche Länder gilt: Nämlich dass der oberste Militär der Verteidigungsminister ist und im Parlament sitzt.
Fortschritte kann die Türkei auch bei der Meinungs- und Pressefreiheit verzeichnen. So gibt es mittlerweile offiziell Fernsehsender und Radiostationen, die in den Sprachen der Minderheiten senden, vor allem in Kurdisch, das noch vor einigen Jahren als "Bergtürkisch" verunglimpft wurde. Zudem ist die Meinungsvielfalt erheblich gewachsen und das Diskussionsklima offener geworden. Entsprechend wird inzwischen das machtverwöhnte und rigide Militär von liberalen Blättern offen attackiert - ein Vorgang, der vor zehn Jahren noch unvorstellbar war.
Erster armenischer Gottesdienst seit 100 Jahren
Hinzu kommt, dass nicht-muslimische Minderheiten mittlerweile mehr Spielraum haben. So konnte beispielsweise Mitte August erstmals seit 88 Jahren im ehemaligen griechischen Kloster Sümela an der Schwarzmeerküste eine Heilige Messe gefeiert werden. Auch in der Heilig-Kreuz-Kirche auf der Insel Aghtama im Van-See, die über Jahrhunderte Sitz des armenischen Katholikos war, soll am Wochenende erstmals seit über hundert Jahren wieder ein Gottesdienst stattfinden.
Trotz dieser positiven Entwicklungen hat die Europabegeisterung am Bosporus aber nachgelassen. Denn die bisherigen zahlreichen Schritte, so meinen viele Türken, würden in Brüssel so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Kein Wunder, dass der Ärger über Europa wächst. "Ständig dieses Hin und Her: Wir kommen rein, wir kommen nicht rein", empört sich ein junger Türke. "'Steckt Euch die EU doch an den Hut!', denkt man da." Und ein anderer meint: "Was kann die EU der Türkei denn geben? Gar nichts!"
Die Türkei hat gute Karten
Obgleich dieser Ton ausgesprochen harsch ist, dürfte die Frage, was die EU dem Land denn geben kann, aus türkischer Perspektive eine gewisse Berechtigung haben. Denn in mindestens zwei Punkten hat man zur Zeit am Bosporus ausgesprochen gute Karten. So wächst die Wirtschaft in der Türkei seit Jahren erheblich stärker als in der Europäischen Union. Entsprechend verzeichnete man im ersten Halbjahr 2010 ein Plus von insgesamt rund elf Prozent. Zudem braucht man sich in der Türkei - anders als in der EU - zur Zeit keine Sorgen über eine sogenannte Überalterung der Gesellschaft zu machen.