Nach Erdbeben in der Türkei Zweifel an Erdogans Bauversprechen
Binnen eines Jahres sollen weit mehr als 400.000 Wohnungen für vom Erdbeben Betroffene gebaut werden. Das verspricht zumindest der türkische Präsident Erdogan. Doch Experten halten das für Wahlkampfgeplänkel.
In der südlichen Erdbebenprovinz Hatay stehen Zelte nach starken Regenfällen unter Wasser. In Sanliurfa und Adiyaman überfluten Regenmassen Straßen sogar meterhoch, reißen alles mit sich. Wieder sterben Menschen durch Naturgewalt. Eine Bewohnerin der überschwemmten Zelte in Hatay ist verzweifelt: "Das Erdbeben haben wir überlebt, jetzt werden wir im Wasser sterben. Beim Erdbeben hat Gott uns gerettet - nun lässt uns der Staat zurück zum Sterben."
Niemand wird zurückgelassen, verspricht Präsident Recep Tayyip Erdogan. Mit dem Bau der ersten mehr als 20.000 Wohnungen sei schon begonnen worden. In den kommenden zwei Monaten sollen es zehn Mal so viele sein - alles erdbebensicher diesmal. Erdogans Ziel ist ehrgeizig: "Binnen eines Jahres sollen alle, die ein Recht darauf haben, in ihre neuen Wohnungen einziehen."
"Eine Stadt besteht nicht nur aus Wohngebäuden"
Taner Yüzgec glaubt das nicht. Er ist Vorsitzender der Kammer der Bauingenieure in Ankara. Im Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul warnt er vor eilig aufgestellten Retortenstädten. Allein die Planung dauere normalerweise ein Jahr lang. "Binnen eines Jahres weit mehr als 400.000 Wohnungen zu bauen, bedeutet, komplett neue Städte zu bauen", sagt er. Aber eine Stadt bestehe nicht nur aus Wohngebäuden, "sondern muss zusammen mit all ihren sozialen Komponenten durchdacht werden".
Das wird alles gemacht, sagt Erdogan. Es entstünden neue Lebensräume mitsamt Infrastruktur: Schulen, Krankenhäuser, Geschäften, Gotteshäuser und Parkanlagen. Bauingenieur Yüzgec bleibt skeptisch. Er hält es ohnehin für falsch, jetzt schon zu bauen, weil die Katastrophenregion noch immer von teils starken Nachbeben erschüttert wird. Und wankender Grund sei nicht der Bauplatz für neue Häuser.
Noch entscheidender aber, warum der Wiederaufbau so schnell nicht gelingen könne, seien logistische Gründe. "Das würde bedeuten, dass alle Baufirmen der Türkei im Erdbebengebiet arbeiten. Das ist weder praktisch noch technisch möglich. Man muss solche Ankündigungen eher für Wahlversprechen halten", meint Yüzgec.
"Wankender Grund ist nicht der Bauplatz für neue Häuser", warnt Bauexperte Yüzgec.
Geht es um Wählerstimmen?
Die machen sich vor den Wahlen im Mai gut. Geht es nach Erdogan, soll sich zumindest bis dahin alles nur um den Wiederaufbau drehen. Womöglich erhofft er sich davon Wählerstimmen.
Seine Anhänger glauben aber ohnehin an ihn. Ein Mann etwa sagt einem Onlinemagazin auf die Frage, ob der Wiederaufbau binnen eines Jahres gelingen könne: "Ich denke schon. Hat sich von der Opposition jemand dazu geäußert, hat jemand gesagt 'Dieser Mann kann das unmöglich in einem Jahr schaffen?' Warum nicht? Weil dieser Mann alles eingehalten hat, was er gesagt hat. Und er wird es wieder tun."
Dabei ist die Aufgabe nicht nur organisatorisch kaum überschaubar. Hunderte Kilometer misst das Erdbebengebiet in alle Richtungen. Auch finanziell wird es für die Türkei ein beispielloser Kraftakt. Die Türkei hat einen Wiederaufbaufonds eingerichtet, in den alle Mittel fließen sollen, auch aus dem Ausland. Kontrolliert werden soll der Fonds von Regierungsmitgliedern.
Rund 100 Milliarden Euro wirtschaftlicher Schaden
Von rund 100 Milliarden Euro wirtschaftlichem Schaden ist die Rede. Ein Großteil davon entfällt auf Wohngebäude. Genau hier könnte man sparen, findet Yüzgec von der Bauingenieurkammer: Häuser verstärken - und somit erdbebensicher machen, statt sie abzureißen.
30 bis 40 Prozent billiger könnte der Wiederaufbau so ausfallen: "Man würde Zeit und Geld sparen und auch der Umwelt einen Gefallen tun. Natürlich kann man nicht jedes beschädigte Gebäude reparieren - das muss man im Einzelfall prüfen. Aber die Option 'Verstärkung' wird - um es mal so zu sagen - von der Bau-Lobby ignoriert."