Militäreinsatz in Nordsyrien Türkei startet Bodenoffensive
Nach Angriffen aus der Luft hat das türkische Militär in Nordsyrien nun auch seine Bodenoffensive gestartet. Aktivisten in der Region berichten bereits von mehreren zivilen Todesopfern.
Kurz vor 22 Uhr deutscher Zeit verkündete das Verteidigungsministerium der Türkei den Beginn der Bodenoffensive. Türkische Soldaten hätten, so hieß es in Ankara, im Rahmen der Operation "Friedensquelle" die Grenze zu Syrien überschritten.
Kampfjets der türkischen Luftwaffe waren da bereits mehr als sechs Stunden lang im Einsatz. Sie bombardierten unter anderem Ziele in den Gebieten der Städte Tall Abjad und Ras al-Ain an der Grenze zur Türkei. Zum Einsatz kamen auch Artilleriegeschütze. Später teilte das Verteidigungsministerium dann mit, dass bis circa Mitternacht 181 Ziele angegriffen wurden.
Der Türkei zufolge richtet sich die Militäroperation gegen die kurdische YPG-Miliz. Ankara hält sie für einen syrischen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit für eine Terrororganisation.
Berichte über mehrere zivile Opfer
Auf Motorrädern, Kleinlastern, aber auch zu Fuß flohen Tausende Bewohner aus den angegriffenen Gebieten, etliche in Panik. "Wir sahen Panzer in der Nähe unseres Dorfes", erzählt ein Mann am Stadtrand von Tall Abyad. "Aus Angst um unsere Kinder sind wir geflohen, wie fast alle Dorfbewohner."
Die Menschen flüchteten zumeist Richtung Süden in Regionen, die noch von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften, kurz SDF, kontrolliert werden. Allerdings soll die türkische Luftwaffe nach kurdischen Angaben Ziele bombardiert haben, die sich 50 Kilometer weit im Landesinnern befinden.
Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnte, dass "erneute Kampfhandlungen zu neuen Fluchtbewegungen und neuer Vertreibung innerhalb Syriens führen werden". Die Ressourcen der humanitären Akteure in und um Syrien im neunten Kriegsjahr seien längst am Limit, sagte der UNHCR-Repräsentant in Deutschland, Dominik Bartsch, der "Welt".
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien wurden bislang 15 Menschen getötet. Unter den acht zivilen Opfern seien auch zwei Kinder, erklärte ein Sprecher. Bei den anderen Toten handele es sich um Kämpfer der SDF. Die Beobachtungsstelle berichtete zudem von mehr als 40 Verletzten, darunter 13 Zivilisten.
Unterstützung durch Ankara-treue Milizen
Unterstützt werden die türkischen Angreifer am Boden von Milizen der so genannten Syrischen Nationalarmee. Sie wurde 2017 auf Betreiben der Türkei gegründet. Ihr gehören Ankara-treue Rebellengruppen und radikale Milizen an.
Die Kurden seien fest dazu entschlossen, Widerstand zu leisten, erklärte Ahmad Moussa vom SDF-Bündnis auf einer Kundgebung in Al-Hassaka. Man werde die Türkei nicht angreifen, aber wenn sie nordsyrische Gebiete besetzt, dann habe man das Recht auf Selbstverteidigung bis zum letzten Blutstropfen. Die Europäische Union und die Vereinten Nationen sollten etwas gegen den türkischen Angriff unternehmen. Wer das nicht tue, unterstütze die Offensive der Türkei.
IS-Kämpfer könnten entkommen
Ein anderer SDF-Sprecher erklärte auf Twitter, die türkische Armee habe ein Gefängnis beschossen, in dem, so wörtlich, die "gefährlichsten Dschihadisten" vom so genannten "Islamischen Staat" inhaftiert seien.
In Lagern im Nordosten Syriens halten die Kurden rund 6000 IS-Kämpfer fest. Zusammen mit Angehörigen und IS-Sympathisanten sollen es bis zu 100.000 Menschen sein, die – so wird befürchtet – aus den Lagern in die Freiheit entkommen könnten, wenn die Kurden und ihre SDF-Verbündeten nun gegen die Türken kämpfen würden, statt die Extremisten zu bewachen.
Europäer beantragen Sitzung des Weltsicherheitsrats
Der Weltsicherheitsrat will heute hinter verschlossenen Türen über die türkische Offensive sprechen, wie UN-Diplomatenkreise verlauteten ließen. Die fünf europäischen Mitgliedsländer des Rats - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Polen - hätten das Treffen beantragt. Es werde im Anschluss an eine für den Morgen (New Yorker Zeit) angesetzte Beratung zu Kolumbien stattfinden, sagten Diplomaten, die nicht namentlich genannt werden wollten.
Nach Angaben der Arabischen Liga planen Außenminister aus der Region für Samstag ein Treffen. Sie würden in Kairo über den türkischen Militäreinsatz sprechen, sagte Hossam Saki, der stellvertretende Generalsekretär der panarabischen Organisation. Zuvor hatte Ägypten ein Treffen angeregt, um über die "Aggression" gegen die Souveränität Syriens zu sprechen.
Erdogan meldet sich per Twitter zu Wort
SDF-Sprecher Mustafa Bali sprach von einer "großen Panik" in der Region, ausgelöst durch türkische Luftangriffe auf "zivile Gebiete" in Nordsyrien. In Tal Abjad hätte die SDF einen türkischen Bodenangriff abgewehrt. Im Vorfeld des Angriffs hatten die SDF vor einer «humanitären Katastrophe» gewarnt. Laut einer Bewohner aus Tal Abjad, der mit seiner Ehefrau und Mutter vor den Bomben in Richtung Rakka flüchtete, war die Straße dorthin voller Fahrzeuge und Familien, die teils zu Fuß flüchteten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan teilte auf Twitter mit: "Unsere Mission ist es, die Entstehung von Terrorkorridoren über unsere Südgrenze hinweg zu verhindern, und Frieden in die Region zu bringen". Er sprach von einer Bedrohung durch Terrorismus für die Türkei. Ziel der Türkei ist es, eine "Sicherheitszone" zu schaffen.