Wegen Coronavirus Türkei lässt Zehntausende Häftlinge frei
Jeder dritte Gefangene soll freikommen - zum Schutz vor Corona, so die Regierung. Oppositionelle kritisieren, es ginge nicht um Gesundheit, sondern um eine Amnestie für regierungsnahe Inhaftierte.
Das türkische Parlament hat der Entlassung Zehntausender Häftlinge zugestimmt. Als Grund wird eine hohe Infektionsgefahr mit Corona in den Gefängnissen genannt. Dem Gesetzentwurf der Regierungspartei AKP zufolge käme etwa jeder dritte Gefangene frei. Die Opposition, Anwälte und Menschenrechtsverbände kritisieren das neue Gesetz, denn politische Gefangene sollen nicht profitieren. Unter ihnen sind auch mehrere deutsche Staatsbürger.
Anwalt Veysel Ok vertritt den deutschen Häftling...
Politische Gefangene bleiben inhaftiert
Veysel Ok macht sich Sorgen. Der türkische Menschenrechtsanwalt vertritt den Gießener Patrick Kraicker. Der 30-Jährige war zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt worden, weil er sich angeblich der Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien anschließen wollte.
Sein Anwalt wartet auf die Entscheidung über den Berufungsantrag. So lange bleibt Kraicker im Gefängnis in einem Vorort von Istanbul. "Wir haben für unsere zwölf inhaftierten Mandanten beantragt, dass sie wegen der Corona-Gefahr freigelassen werden. Bei den meisten wurden unsere Anträge abgelehnt, bei den restlichen haben wir noch keine Antwort", so Anwalt Ok.
Infektionsrisiko im Gefängnis ist hoch
Die Gefahr, sich im Gefängnis mit Covid-19 zu infizieren, gilt als hoch. Die Gefängnisse sind mit insgesamt 294.000 Gefangenen völlig überbelegt. Das ist auch der offizielle Grund für die Strafvollzugsreform, durch die 70.000 bis 75.000 Häftlinge freikommen werden und bis zu 20.000, die im offenen Vollzug sind, vorerst nicht ins Gefängnis zurückkehren müssen.
Anwalt Ok meint, um den Ausbruch von Corona in Gefängnissen zu verhindern, komme das aber zu spät: "Wir wissen sowohl von unseren Mandanten, als auch aus den Medien, dass es bereits Fälle gibt." Jüngstes Beispiel sei ein Gefängnis in der südtürkischen Stadt Mardin, wo gerade ein Covid-19-infizierter Häftling freigelassen worden sei.
Nicht freigelassen werden sollen durch die Gesetzesreform Häftlinge, die wegen vorsätzlichen Mordes oder Sexualdelikten verurteilt sind - oder wegen Terrorvorwürfen. So wie Patrick Kraicker. Inhaftiert bleiben außerdem Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Auch der deutsch-türkische Autor Enver Altayli und die Kölner Sängerin Hozan Cane dürfen sich keine Hoffnungen machen, durch die Reform vom Corona-Risiko im Gefängnis verschont zu werden.
Vorwurf: Nur regierungsnahe Häftlinge profitieren
In der Parlamentsdebatte warf die Abgeordnete Ayse Acar von der prokurdischen HDP der Regierung vor, es gehe ihr gar nicht um den Schutz der Häftlinge: "Sie nutzen die Corona-Pandemie, um alle regierungsnahen Inhaftieren von einer Amnestie profitieren zu lassen. Dagegen müssen Regierungskritiker und Oppositionelle weiter in Haft bleiben. Sie liefern sie dem Tod aus, ja genauer gesagt, sie verurteilen sie zum Tode. Wir werden nicht aufhören, das zu sagen."
Auch die Menschenrechtsorganisation IHD kritisiert das in einer Stellungnahme. Sie fordert, alle ernsthaft kranken Häftlinge freizulassen. Darunter würden auch Enver Altayli und Hozan Cane fallen. Aber dazu wird es wohl nicht kommen. Auch prominente Häftlinge wie der der ehemalige Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, oder der Unternehmer und Kulturmäzen Kavala werden im Gefängnis bleiben müssen.
Strafvollzugsreform schon lange geplant
Die Regierungspartei AKP hält das für richtig. Im Parlament wies deren Abgeordneter Yilmaz Tunc die gesundheitlichen Bedenken schroff zurück: "Es wird behauptet, dieser Gesetzentwurf sei ungerecht. Also, wenn es einige Abgeordnete stört, dass Terroristen nicht freikommen, dann ist das deren Problem."
Weil mit der Gesetzesänderung auch die Resthaftdauer neu berechnet wird, haben viele Verurteilte ihre Haftstrafe damit abgegolten oder können sie im Hausarrest absitzen. Anwälte wie Veysel Ok sprechen deshalb auch von einer indirekten Amnestie. Gefangene im Falle einer Epidemie freizulassen - das wäre auch mit dem bisherigen Gesetz möglich gewesen. "Die Reform des Strafvollzugs hatten die Regierungspartei AKP und der MHP schon lange vor Ausbruch der Pandemie geplant. Durch Corona wird es jetzt nur beschleunigt", so Ok.
Erdogans ultranationalistischer Bündnispartner MHP drängte schon seit Jahren auf eine Amnestie. Corona gibt dazu jetzt die Gelegenheit. Ursprünglich war sogar geplant, Täter, die wegen Vergewaltigung inhaftiert sind, ebenfalls freizulassen. Nach Protesten von Frauenverbänden wird darauf aber verzichtet.