Nach Tod von 71 Flüchtlingen in Lkw Schlepper belastet Komplizen schwer
Als Polizisten vor einem Jahr auf der Autobahn nahe Wien einen abgestellten Lkw öffneten, entdeckten sie 71 Leichen. Ermittlungen ergaben, dass die mutmaßlichen Täter einem Schleusernetz angehörten. Im Interview mit NDR, WDR und SZ belastet ein Bandenmitglied seine Komplizen schwer.
Ein Lastwagen mit einem Werbeaufdruck für Hühnchen steht auf einer Autobahn. Drum herum stehen Ermittler in weißen Ganzkörperanzügen, die Spuren sichern - die Bilder des Todes-Lkw von der A4 bei Wien gingen vor rund einem Jahr um die Welt. Im Inneren des Lastwagens lagen die Körper von 71 toten Männern, Frauen und Kindern. Sie waren bei dem Versuch erstickt, in ein besseres Leben zu flüchten. Die Schleuser hatten den Laster einfach zurückgelassen.
Schleuserbande organisierte 30 weitere Fahrten
Eine Recherche von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" zeigt die Hintergründe der Todesfahrt und deckt Einzelheiten über das Netz der Schleuser auf, die die Menschen in den luftdicht verschlossenen Lastwagen gepfercht hatten. Die Bande hat demnach rund 30 weitere Schleuserfahrten nach Europa organisiert, 13 davon hatten einen unmittelbaren Deutschlandbezug. Das bestätigen Ermittler.
Mindestens eine der Fahrten fand ebenfalls in einem Kühllastwagen statt, der sogar mit 81 Menschen beladen worden war. Dieser Lastwagen wurde in Sachsen von der Polizei aufgegriffen. Die Menschen überlebten die Fahrt offenbar nur, weil ein Mann einen Luftschlitz in die Decke gestoßen hatte.
"Für diesen Job wird man immer Leute finden"
Die Reporter konnten erstmalig mit dem Fahrer sprechen, der den Lkw mit den 81 Flüchtlingen nach Sachsen lenkte. Ilmaz A. sitzt zurzeit in Bautzen eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen des banden- und gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern ab. Im Interview erklärt der Bulgare das Geschäft mit den Flüchtlingen: "Ich wusste schon, dass hinten Menschen transportiert werden und keine Kartoffeln. Aber solange die Leute nicht in Deutschland angekommen waren, bekam ich kein Geld."
"Ich wusste schon, dass hinten Menschen transportiert werden und keine Kartoffeln" - Lkw-Fahrer Ilmaz A.
Früher, so Ilmaz A., habe die Bande auch Lkw mit Planen für die Transporte genutzt. "Aber während der Fahrt haben die Flüchtlinge die Planen oft zerschnitten. Und wenn man damit über die Autobahn fährt und Menschen transportiert, dann wird die Polizei schneller aufmerksam und der Wagen könnte gestoppt werden", sagte A. Deshalb sei man auf geschlossene Lkw mit Metallaufbauten umgestiegen. Nach Aussage des Bulgaren hat die Bande gezielt in einer armen Region des Landes Mittäter rekrutiert. "Sie suchten ständig neue Fahrer. Für diesen Job wird man immer Leute finden. Wenn die Leute hören, dass sie zum Beispiel 1000 Euro pro Fahrt verdienen können, dann werden sie selbstverständlich da mitmachen."
Ihr Ziel war Deutschland
Auch Chatnachrichten und Notizen der Opfer konnten ausgewertet werden. Zum Beispiel die der jungen jesidischen Geschwister Elin (14) und Alend (15). Sie waren aus dem Irak nach Europa geflohen und in Ungarn in den Lkw gestiegen. Beide wollten in Deutschland studieren. Kurz vor der Abfahrt des Lkw schrieb Elin in einer Chatnachricht, dass es ein "schlechter Tag" sei. In ihr Tagebuch schrieb das Mädchen, dass es seine Familie vermisse, aber unbedingt nach Deutschland wolle. Dieses Papier fanden Ermittler später neben ihrer Leiche im Lkw.
Ihr Vater Heli Kali sagte: "Meine Tochter Elin hatte immer Angst vor der Dunkelheit, seitdem sie klein war. Sie hat in dunklen, verschlossenen Räumen immer richtig Panik bekommen. Das tut mir am meisten weh, wenn ich mir das vorstelle, in was für eine Situation sie geraten ist. Das geht mir nie aus dem Kopf, dass sie so gestorben ist. In einer Situation, vor der sie so eine Angst hatte."
"Jeder kennt den Schleuser hier"
Nach Aussage von Kali ist das Geschäft mit der Flucht bis in den Irak gut organisiert gewesen. "Jeder kennt den Schleuser hier. Man geht einfach in den Laden, der Chef sitzt zwar in der Türkei, aber er hat Vertreter hier vor Ort. Und den Rest organisieren dann die Schleuser ab Istanbul", sagte Kali im Interview. Man habe gewusst, dass eine Flucht gefährlich sei. "Aber hier ist es noch gefährlicher. Man flieht hier auch vorm Sterben." Deswegen habe die Familie extra mehr Geld an die Schlepper bezahlt, damit die Kinder nicht über das Meer reisen müssten.
Ermittler berichten, dass die Schlepperbande nach schnellen Profiten gestrebt habe und den enormen Flüchtlingsandrang im vergangenen Jahr nutzte. Das Leben der Menschen habe für die Gruppe dabei bestenfalls eine Nebenrolle gespielt. Der Fahrer Ilmaz A., der den Lkw nach Sachsen gefahren hat, sagte umfassend gegen die Mitglieder der Schleuserbande aus. Sechs Personen sitzen derzeit in Ungarn in Untersuchungshaft. Sie sollen die Fahrten, auch die des Lkw mit den 71 Toten, organisiert und durchgeführt haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Im Herbst soll Anklage erhoben werden.
Das Interview ist Teil der Dokumentation "Erstickt im LKW - das Ende einer Flucht", die das Schicksal der Opfer und die Machenschaften der Schleuserbande rekonstruiert. Der Film wird am Montag, den 22. August, um 23:30 im Ersten ausgestrahlt.