Interview mit Nahost-Experte Cheterian "Syrer fühlen sich isoliert und betrogen"
Die Opposition Syriens drängt Machthaber Assad zunehmend in die Defensive. In der Bevölkerung herrscht aber nach anderthalb Jahren Gewalt enorme Frustration über das Ausland, sagt Nahost-Experte Vicken Cheterian im Interview mit tagesschau.de. Auch gebe es Hinweise auf eine religiöse Radikalisierung.
tagesschau.de: Die UNO hat angekündigt, ihre Mitarbeiter aus Syrien abzuziehen. Wie ist die Lage derzeit vor Ort?
Vicken Cheterian: In den vergangenen Wochen haben Oppositionskämpfer zahlreiche strategische Positionen eingenommen und übernehmen täglich ein bis zwei neue. Dazu zählen Militärflughäfen und Armeestützpunkte. Der gesamte Norden und Osten sind praktisch unter Kontrolle der bewaffneten Oppositionskämpfer, mit Ausnahme einiger Militärstützpunkte, die aber seit Monaten belagert werden. Die Regierungsstreitkräfte verlieren auch zunehmend Positionen in der Region Damaskus. Derzeit gibt es Kämpfe an der Straße zum Flughafen. Weil der Flughafen der einzige Ort für ein sicheres Verlassen des Landes ist, wurden viele UN- und EU-Mitarbeiter sowie Diplomaten ausgeflogen.
Vicken Cheterian ist Analyst und Autor. Er lebte lange im Nahen Osten und bereist die arabische Welt seit Jahren regelmäßig. Unter anderem im Auftrag der UNO führte er in den vergangenen Monaten Interviews mit zahlreichen Syrern und recherchierte in den Nachbarländern.
tagesschau.de: Die Führung um Baschar al Assad ist also auf dem Rückzug?
Cheterian: Die Führung um Assad verliert die Kontrolle über den Boden. Die bewaffnete Opposition ist in der Offensive. Während der Kämpfe erbeutet sie immer mehr Waffen. Dazu zählen 23-Millimeter-Maschinengewehre, die gegen Hubschrauber und Bodenkampfflugzeuge unterhalb von zwei Kilometer Höhe eingesetzt werden können. Medienberichten zufolge haben die Kämpfer außerdem 40 leichte Flugabwehrraketen erbeutet. Dies reduziert die Stärke der syrischen Armee.
All dies zeigt, dass die militärische Antwort des Regimes auf den Aufstand ein Misserfolg war. Indem das von Alawiten dominierte Regime Artillerie-Geschosse gegen ganze Stadtviertel einsetzte, trieb es auch seine Unterstützer innerhalb der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung auf die Oppositionsseite. Mit dem militärischen Vorgehen zwang das Regime seine Gegner, sich zu bewaffnen.
Zwei Optionen für Assad
tagesschau.de: Wird sich Assad noch lange halten können?
Cheterian: Ich sehe nicht, dass er das Ruder noch einmal herumreißen kann. Assad hat zwei Optionen: Er kann ins Exil gehen oder sich zu den Alawiten in den Bergen an der Küste, der Heimatregion seiner Familie, zurückziehen und den Kampf dort fortsetzen.
tagesschau.de: Was würde geschehen, wenn Assad das Land verlässt?
Cheterian: Wenn er das Land verlässt, dann ist eine Phase gewalttätiger Rache zu erwarten - besonders in Regionen mit Bevölkerung verschiedener Ethnien und religiösen Glaubens. Ich denke, das wird nicht lange andauern. Es sei denn, die Alawiten werden bewaffnet und kämpfen mit Assad.
Was kommt nach Assad?
tagesschau.de: Die Regierungsgegner bestehen aus verschiedenen politischen und militärischen Gruppierungen mit dem einzigen gemeinsamen Ziel, Assad zu stürzen. Wie konnte es ihnen einerseits gelingen, das Assad-Regime so in die Defensive zu drängen, und was ist andererseits für eine Zukunft ohne Assad zu erwarten?
Cheterian: Das Fehlen einer Führung und einer Hierarchie innerhalb der Opposition war zu Beginn des Aufstands gegen Assad eine Stärke. Assad fand keine militärischen und politischen Mittel, diese unabhängigen Gruppierungen zu bekämpfen.
Jetzt wird deutlich, wie sehr ihnen diese Führung fehlt und wie hinderlich die Differenzen zwischen ihnen sind. Sie koordinieren sich zwar logistisch. Aber praktisch jedes Dorf in Syrien wird von mehr als einer bewaffneten Gruppe beschützt. Es wird also einen Kampf darum geben, wie das Land künftig geführt wird.
Enorme Frustration in Syrien über das Ausland
tagesschau.de: Kürzlich haben mehrere syrische Oppositionsgruppierungen in Katar eine Koalition gegründet. War dies mehr als ein Signal an die internationale Gemeinschaft?
Cheterian: Die Koalition entstand unter äußerem Druck vor allem der USA. Es war eine Vorbedingung für umfangreichere Unterstützung. Das Ausland forderte dies auch, weil man sich bewusst geworden ist, dass das Assad-Regime dem Ende zugeht. In dieser Hinsicht war die Gründung der Koalition in Doha ein Erfolg. Aber die eigentliche Spaltung besteht zwischen den Kämpfern in Syrien und der Opposition im Exil. Diese Trennung wurde nicht überwunden. Die Kämpfer in Syrien werden eine Führung aus dem Ausland nicht einfach akzeptieren.
Es gibt eine wirklich enorme Frustration in Syrien. Die Welt nimmt dies nicht wahr. Als der Aufstand begann, dokumentierten die Menschen in Syrien die Gewalt des Regimes. Sie erwarteten, dass ihnen die Welt helfen würde. Aus ihrer Sicht bekamen sie keine Hilfe. Sie fühlen sich isoliert, allein gelassen und betrogen von der internationalen Gemeinschaft und den Syrern im Exil. Die Menschen in Syrien nennen sie die "Hotel-Opposition".
tagesschau.de: Aber die Opposition erhält doch Unterstützung aus dem Ausland?
Cheterian: Die Opposition bekommt Munition, Geld und Waffen. Aber dies entscheidet nicht die Machtbalance vor Ort. Auch die Waffen, Munition, das Geld und der Diesel für Assad entscheiden nicht den Konflikt, wenngleich sie ihm halfen zu überleben.
tagesschau.de: Welche Hilfe erwartet denn die Opposition ?
Cheterian: Die Aktivisten der Opposition hofften anfangs auf einen Luftwaffen-Einsatz wie in Libyen. Als das Regime begann Waffen einzusetzen, hofften sie auf die Einrichtung einer Flugverbotszone, wie die USA sie 1991 über Irak eingerichtet hatten. Die letzte Hoffnung der Aktivisten war, dass die sie unterstützenden Länder sie mit Waffen wie Panzerabwehr- und Luftabwehrraketen ausstatten würden. Da ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden, fühlen sie sich betrogen. Inzwischen benötigen sie nicht mehr nur Waffen, sondern alles von medizinischer Ausrüstung über Treibstoff bis hin zu Brot.
Hinweise auf Radikalisierung in Syrien
tagesschau.de: Es gibt zahlreiche Berichte, dass militante Islamisten und Al-Kaida-Kämpfer nach Syrien kommen. Wie einflussreich sind sie?
Cheterian: Dschihadisten werden oft als kompakte Gruppe wahrgenommen, die von einem Konflikt zum nächsten ziehen. In vielen Interviews wurde mir jedoch erzählt, dass nur 15 bis 20 Prozent der Kämpfer erfahren und ausgebildet sind. Die meisten anderen sind Anfänger.
Das ist das Problem bei Konflikten wie in Syrien oder zuvor im Irak und in Afghanistan: Diese Konflikte ziehen einige erfahrene Kämpfer und viele Neulinge an. Solange die Kämpfe dauern, kann eine neue Generation radikalisierter Dschihadisten mit militärischer Erfahrung im Kampf gebildet werden.
Gefährlicher wird es aber noch in Syrien, wenn sich eine große Zahl Aktivisten und Kämpfer und auch die öffentliche Meinung des Landes unter dem Eindruck der Gewalt in Richtung der salafistischen Ideologie radikalisiert.
tagesschau.de: Gibt es Hinweise, dass diese Entwicklung bereits eingetreten ist?
Cheterian: Ja, es gibt eine solche Entwicklung in Gegenden, wo die Menschen über Monate unter heftigem Beschuss durch die Armee leiden. Bei einigen Gruppen hat Al Kaida bereits ein sehr positives Image.
Eine ganze Region in Unruhe
tagesschau.de: Wie groß ist die Gefahr, dass der Konflikt in Syrien auf die gesamte Region übergreift?
Cheterian: Die gesamte Region ist bereits in Unruhe. Wir reden nicht mehr über den Irak, aber das Land ist sehr instabil mit fast täglichen Anschlägen und zahlreichen Toten jeden Tag. Wir berichten nur nicht mehr darüber. Der Libanon ist nicht viel stabiler. Die Gefahr eines Übergreifens auf Israel ist weniger groß als die möglichen Auswirkungen auf Jordanien oder die Türkei. Wenn Syrien nach Assad für eine lange Zeit instabil bleibt, dann ist das keine gute Entwicklung für die gesamte Region.
tagesschau.de: Die NATO wird auf Wunsch Ankaras "Patriot"-Raketen an der türkisch-syrischen Grenze stationieren. Gegen den Mörser-Granaten-Beschuss können diese nichts ausrichten. Wozu könnten sie dann gut sein?
Cheterian: Die Stationierung von "Patriot"-Raketen ist mehr ein symbolischer Akt, um Solidarität mit der Türkei zu zeigen. Sie kommt ein bisschen spät. Zu einem früheren Zeitpunkt hätten "Patriots" effektiv für die Einrichtung einer Flugverbotszone im Norden Syriens eingesetzt werden können. Aber mittlerweile ist der Norden praktisch für das Regime verloren. Ich bezweifle, dass das Regime noch in der Lage sein wird, Aleppo und andere Orte zu bombardieren, wenn die "Patriots" einsatzfähig sein werden.
Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de