Abzug aus Syrien "Die Kurden werden die Verlierer sein"
Der Abzug der US-Truppen in Syrien wird das Machtgefüge in der Region entscheidend verändern, sagt ARD-Korrespondent Hechler im tagesschau.de-Interview. Und: "Die Schlacht gegen den IS ist noch nicht geschlagen."
tagesschau.de: Wenn die USA ihre Truppen abziehen, welche Situation hinterlassen Sie dann in Syrien?
Daniel Hechler: Die Kurden werden wohl die großen Verlierer in diesem Spiel sein. Sie haben über Jahre an der Seite der USA erfolgreich gegen die Terrormiliz IS gekämpft und große Erfolge erzielt in Kobane, in Rakka und aktuell bei der Schlacht um Hajin. Sie sind aber auch auf den Schutz der USA angewiesen. Sie werden bedroht durch türkische Einheiten im Norden. Zudem hat Präsident Assad ein Auge auf die Region geworfen und angekündigt, dass er jeden Quadratmeter des Landes zurückerobern möchte, also auch das Kurdengebiet.
Wenn die USA jetzt quasi als Schutzmacht der Kurden abziehen, sind diese auf sich allein gestellt. Sie sind der türkischen Übermacht, aber Präsident Assad und seinem Verbündeten Russland ausgeliefert.
tagesschau.de: Was bedeutet das für die Bevölkerung vor Ort?
Hechler: Das Kurdengebiet, um das es hier geht - denn nur dort sind die verbliebenen US-Soldaten im Einsatz - ist eine der stabilsten Regionen in Syrien. Dort war jetzt viele Jahre weitgehend Ruhe, während im Rest Syriens Krieg herrschte und es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam. Jetzt besteht die Gefahr, dass diese stabile Region wieder in eine Unruheregion kippen könnte. Nämlich dann, wenn es erneut eine türkische Offensive geben sollte.
In Afrin hat man gesehen, was das heißt: Wochenlange Luftangriffe, Vormarsch von Bodentruppen. Auch wenn von Präsident Erdogan immer wieder beteuert wurde, dass die Zivilisten geschont werden sollen, sind es doch gerade sie gewesen, die gelitten haben, die keinen Zugang mehr zu Lebensmitteln hatten, die verletzt wurden und gestorben sind.
"Es droht eine Rückkehr des IS"
tagesschau.de: Trump rechtfertigt den Abzug damit, dass der IS besiegt sei. Stimmt das?
Hechler: Das ist voreilig. Man sieht gerade bei der Schlacht um Hajin im Euphrat-Tal wie schlagkräftig der IS noch immer ist. Dort sollen sich noch immer einige Tausend IS-Kämpfer aufhalten: Syrer und Ausländer, die noch immer sehr gut ausgerüstet sind und entschlossen sind bis zum Tod zu kämpfen. Diese Schlacht ist noch immer nicht geschlagen. Noch immer gibt es jeden Tag überraschende Gegenangriffe mit Toten und Verletzten auf kurdischer Seite.
Der IS als Staat ist womöglich bald Geschichte, als Organisation aber noch nicht. In Syrien ist er finanziell und logistisch gut aufgestellt und mit Waffen ausgestattet. Er kann jederzeit wieder losschlagen und dann droht eine Rückkehr des IS.
tagesschau.de: Wer ist denn noch vor Ort, wenn die USA sich zurückziehen?
Hechler: Im Norden und Nordosten, also dem Gebiet, das unter Kontrolle der Kurdenmiliz ist, ist die Situation überschaubar. Nach erfolgreichen Kämpfen gegen die Terrormiliz IS haben dort die kurdischen Kämpfer der YPG die Kontrolle, die wiederum unter dem Dach der syrisch-demokratischen Kräfte agieren. Sie sind eng verbündet mit den USA, die dort derzeit mit 2000 Spezialkräften stationiert sind.
Sie versuchen eine Art Autonomie aufzubauen, zwar keinen eigenen Staat, aber sie haben lokale Stadträte installiert und an den Schulen wird jetzt auch Kurdisch unterrichtet. Diese Autonomie ist natürlich bedroht, wenn die USA abziehen. Bedrohung kommt vom Norden, von wo türkische Truppen einmarschieren könnten und vom Süden, von wo Assad in das Gebiet eindringen könnte.
"Der Iran könnte gestärkt werden"
tagesschau.de: Wird dieser Abzug Auswirkungen auch auf das Kräfteverhältnis im Rest des Landes haben?
Hechler: Der Iran, der bislang auch ein Stück weit durch die Präsenz der US-Truppen in Schach gehalten wurde, könnte gestärkt werden. Als einer der engsten Verbündeten Assads - neben Russland - spielt der Iran eine große Rolle in Syrien. Es gibt etliche iranische Stellungen in Syrien und die große Sorge der USA, aber insbesondere Israels war es immer, dass Syrien ein Brückenkopf werden könnte für eine mögliche Offensive gegen Israel.
Israel hat in den vergangenen Monaten immer wieder Angriffe geflogen gegen iranische Stellungen in Syrien und so versucht den Iran in Schach zu halten. Sollten die US-Truppen abziehen, könnte das die Präsenz des Irans verstärken.
"Bald könnten türkische Truppen einmarschieren"
tagesschau.de: Hat die Entscheidung Trumps etwas mit Erdogan und dessen geplanter Offensive in Syrien zu tun?
Hechler: Wir wissen, dass es in der vergangenen Woche ein Telefonat zwischen Trump und Erdogan gab. Anschließend wurde mitgeteilt, dass man übereingekommen sei, sich im Hinblick auf den Norden Syriens eng abzustimmen. Die Ankündigung, nun aus dem Norden Syriens abzuziehen, passt da gut ins Bild. Das könnte also bedeuten, erst kommt der Abzug der USA, dann der Einmarsch der türkischen Truppen, so gäbe es keine Kollision der beiden NATO-Partner.
tagesschau.de: Wie ist derzeit der Stand bei der geplanten türkischen Offensive?
Hechler: Erdogans Sorge ist ja, dass der Norden Syriens Rückzugsort für Kämpfer kurdischer Terrorgruppen werden könnte. Deshalb hat die Türkei an der Grenze nun schweres Geschütz aufgefahren. 14.000 Kämpfer ihrer Verbündeten, der Freien Syrischen Armee, die auch schon in Afrin gekämpft haben, sind dort. Sie sind im Grunde einsatzbereit und warten auf den Befehl loszulegen. Das kann theoretisch jeden Tag passieren, aber es ist wahrscheinlich, dass man den Rückzug der US-Truppen abwartet.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.