Interview

Interview zum Streik in Großbritannien "So drastisch gekürzt hat noch nicht einmal Thatcher"

Stand: 30.06.2011 16:27 Uhr

Hunderttausende Beamte haben in Großbritannien gegen die Rentenreformpläne der Regierung protestiert. Denn: Nicht einmal Thatcher habe so drastisch gekürzt, sagt ARD-Korrespondentin Annette Dittert im Gespräch mit tagesschau.de. Im Herbst könnte der Streik aber wie ein unschuldiges Vorspiel wirken.

tagesschau.de: In Großbritannien sind aus Protest gegen die geplante Rentenreform von Premierminister David Cameron Hunderttausende Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in einen eintägigen Streik getreten. Wie macht sich das im Alltag bemerkbar?

Annette Dittert: Das macht sich überall bemerkbar. In London selbst geht seit 11 Uhr gar nichts mehr. Die Innenstadt ist durch die Demonstrationen, die den Streiktag heute begleiten, komplett lahmgelegt. Und auch in vielen anderen Städten, vor allem im Norden Englands, der gewerkschaftlich am stärksten organisiert ist, wird es zu massiven Behinderungen kommen.

Darüber hinaus bleibt ein großer Teil der öffentlichen Schulen heute geschlossen. Und an den Flughäfen, vor allem in Heathrow und Gatwick, muss man sich auf lange Wartezeiten gefasst machen. Dort werden die Passkontrollen von wesentlich weniger Personal abgewickelt. Und wenn man weiß, wie lang die Schlangen dort schon an einem normalen Tag sind, dann weiß man auch, dass man heute besser nicht nach London fliegt.

"Die Briten tragen Konflikte ungern öffentlich aus"

tagesschau.de: Der Hintergrund der Proteste ist, dass Staatsbedienstete länger arbeiten und mehr in die Rentenkasse einzahlen sollen. Die Gewerkschaften sprechen von einer "Kriegserklärung". Wie einschneidend sind die Pläne der Regierung denn tatsächlich?

Dittert: Das Sparprogramm der Regierung ist massiv. Insgesamt sollen in den nächsten vier Jahren umgerechnet mehr als 90 Milliarden Euro eingespart werden. So drastisch gekürzt hat noch nicht einmal die legendäre Premierministerin Margaret Thatcher. Eigentlich wundert es mich, dass es nicht schon längst viel größere Proteste gegen diese Pläne der Regierung gegeben hat. Aber die Briten haben eben eine andere Mentalität als die Franzosen, die schon beim kleinsten Anlass begeistert auf die Straße gehen. Sie tragen Konflikte ungern öffentlich aus. Und dass es jetzt doch immer häufiger dazu kommt, zeigt, wie ernst die Lage ist.

tagesschau.de: Kann man die Lage im Land mit der Thatcher-Zeit vergleichen, in der es heftige Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Gewerkschaften gab?

Dittert: Im Moment ist die Stimmung noch nicht so aufgeheizt wie damals in den 80er-Jahren. Dennoch baut sich an immer mehr Fronten Widerstand auf. Viele Maßnahmen, die von der britischen Koalitionsregierung im vergangenen Jahr verkündet wurden, greifen erst jetzt. Und so spüren viele Briten das volle Ausmaß der Einschnitte erst im Laufe dieses Jahres. Viele Beobachter erwarten hier, dass es spätestens im Herbst zu weitaus heftigeren Protesten kommen wird.

"Andere Demonstranten werden folgen"

tagesschau.de: Oft gelten Staatsbedienstete ja als weitaus besser gestellt als andere Bevölkerungsgruppen. Wie groß ist denn die Solidarität in der Bevölkerung mit den Beamten?

Dittert: Relativ groß, denn das Sparprogramm der Regierung trifft alle Briten. Und die Beamten verdienen in Großbritannien traditionell nicht viel, ein durchschnittliches Lehrergehalt zum Beispiel beträgt umgerechnet circa 3000 Euro brutto. Da treffen die Einschränkungen den Einzelnen schon sehr hart. Nach den Studenten, die im vergangenen Dezember relativ lautstark gegen die massive Erhöhung der Studiengebühren protestiert haben, sind die Beamten jetzt einfach nur die zweite Gruppe, die auf der Straße gegen die Regierungspläne demonstriert. Andere werden folgen.

"Heutiger Tag könnte wie ein unschuldiges Vorspiel wirken"

tagesschau.de: Um einen großen Streik im Herbst zu verhindern, erwägt die britische Regierung eine Verschärfung des Streikrechts. Was genau würde das bedeuten und könnte die Regierung damit tatsächlich durchkommen?

Dittert: Margaret Thatcher hat das britische Streikrecht bereits in den 80er-Jahren massiv verschärft. So dürfen die Gewerkschaften zum Beispiel nicht mehr für Sympathiestreiks in anderen Branchen mobilisieren. Die jetzige Regierung hat aber in der Tat immer mal wieder durchsickern lassen, dass sie überlegt, das Abstimmungsrecht zu ändern. In Zukunft müsste dann die Mehrheit aller Gewerkschaftsmitglieder in einem Betrieb für einen Streik stimmen, bevor gestreikt werden darf. Bislang reicht eine Mehrheit derjenigen, die tatsächlich mit abstimmen.

Bis zum Herbst wird eine solche Gesetzesänderung aber nicht durchkommen, und offiziell erklärt die Regierung auf Anfrage auch, dass sie nichts dergleiches konkret plant. Wahrscheinlich will sie ihr Volk in der angespannten Atmosphäre, die hier derzeit herrscht, im Moment nicht weiter provozieren. Denn mit jedem weiteren Monat in diesem Jahr werden die Folgen der Sparbeschlüsse spürbarer werden. Insofern kann es gut sein, dass Großbritannien in diesem Jahr einen "heißen Herbst" erlebt, es zu einem echten "Mammut-Streik" kommt, der den Streiktag von heute wie ein unschuldiges Vorspiel wirken lässt.

Die Fragen stellte Johanna Bartels, tagesschau.de

Das Interview führte Annette Dittert, ARD London