Völkermord in Ruanda vor 25 Jahren "Es war wie das Ende der Welt"
Akribisch war der Völkermord in Ruanda vorbereitet worden, am Ende waren fast eine Million Menschen tot. Auch heute, am 25. Jahrestag, zeigt sich: Das Land tut sich schwer mit der Aufarbeitung des Genozids.
Schon am Tag vor den offiziellen Gedenkveranstaltungen ist es in Ruandas Hauptstadt Kigali sehr ruhig. Es wirkt, als ob sich das ganze Land bereits jetzt darauf vorbereitet, den Horror von 1994 noch einmal zu durchleben. Manche sind einsilbig. Andere reden. Aber den Schmerz in den Augen sieht man immer, wenn die Überlebenden des Genozids in Ruanda erzählen - so wie bei Alphonse Habimana. Er war fünf Jahre alt, als die Mörder kamen.
Ein vermeintlich sicherer Ort
Was im April 1994 passierte, hat sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt: "Wir sind zur Kirche geflohen, weil wir hofften, dass uns dort nichts passieren würde. Man hatte uns sogar gesagt 'wenn ihr zur Kirche geht, wird euch kein Feind dorthin folgen'. Meine Mutter hat mich und meine Geschwister also hier hergebracht. Mein Vater war nicht dabei, er hatte sich mit anderen Männern im Dorf verabredet, um gegen die Milizen zu kämpfen."
Alphonse Habimana hat das Massaker als kleiner Junge erlebt.
Auf dem Gelände der katholischen Kirche von Ntarama, einem kleinen Ort südlich der Hauptstadt, waren am 15. April 1994 mehr als 5000 Menschen zusammengekommen.
"Eine Mischung aus Lärm, Schreien und Weinen"
"Es muss ungefähr 11 Uhr vormittags gewesen sein. Viele Tutsi-Familien waren mit ihren Tieren gekommen, Hühner, Ziegen, Kühe. Wir waren so viele. Manche waren im Haus des Priesters, manche in der Küche, manche hatten sich sogar im Wassertank versteckt. Dann sahen wir auf einmal zwei große Busse. Die Mörder stiegen aus und umringten das Gelände. Sie fingen an, uns zu töten. Auch die Tiere. Es war eine Mischung aus Lärm, Schreien und Weinen von Menschen und Tieren. Ich habe gar nicht verstanden, was passierte. Ich habe nur gesehen, dass es wie das Ende der Welt war."
Hutu-Milizen töteten in dieser Kirche bei Kigali 5000 Tutsi. Nach dem Ende des Genozids ließ man den Ort zur Erinnerung an den Blutrausch unverändert. (Archivbild 2014)
"Täter vom Teufel besessen"
Für Alphonse war es das Ende der Welt, andere beschreiben die Zeit als Hölle, die Täter als vom Teufel besessen. Unvorstellbar jedenfalls, was sich ab dem 7. April 1994 einhundert Tage lang in dem kleinen ostafrikanischen Ruanda abspielte. Über Jahrzehnte hatte sich der Hass der Hardliner der Volksgruppe der Hutu gegen die Minderheit der Tutsi angestaut. Schon 1959 war es zu Massakern gekommen, die viele Tutsi in Nachbarländer hatten fliehen lassen. 1994 war es wieder soweit.
Viele wurden zu Mördern
Akribisch war der Genozid monatelang vorbereitet worden, auch durch die Anti-Tutsi-Propaganda des Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines (Radio-Fernsehen der 1000 Hügel). In der Nacht vom 6. auf den 7. April wurde das Flugzeug des damaligen ruandischen Präsidenten Habyarimana, einem Hutu, in Kigali abgeschossen - direkt danach begann das Morden. Wer für den Abschuss des Flugzeuges verantwortlich ist, wurde nie offiziell geklärt. Es war jedenfalls, als hätten die Hutu-Milizionäre nur darauf gewartet. Und nicht nur sie.
Auch ganz normale Menschen - Männer, Frauen, Jugendliche - wurden zu Mördern. An Nachbarn, an Kollegen, an Kindern, an Alten.
Fotos von Kindern, die im Genozid getötet wurden, sind in der Gedenkstätte in Kigali ausgestellt.
Aus der Kirche in den Tod
"Meine Mutter sagte: 'Kinder, ich glaube nicht, dass wir fliehen können oder sie uns entkommen lassen. Lasst uns rausgehen, damit wir wenigstens außerhalb der Kirche sterben'", erinnert sich Alphonse. "Alle, die die Kirche verließen, mussten ihren Ausweis zeigen. Nur wer Hutu im Pass stehen hatte, wurde verschont. Meine Mutter hat versucht, ihnen zu sagen, sie sei Hutu. Aber sie sagten: 'Sei still, wir wissen, dass du Tutsi bist'. Dann haben sie ihr den Kopf mit einer Machete abgeschlagen. Meinen kleinen Bruder, den sie auf dem Rücken trug, haben sie an der Wand zerschmettert."
Der fünfjährige Alphonse konnte schwer verletzt fliehen. Sein Vater starb kurz nach dem Genozid an gesundheitlichen Folgen. Wie so viele andere wuchs Alphonse als Waise auf.
Keine Hilfe für die Menschen
Die internationale Gemeinschaft versagte kläglich im Fall Ruanda. Der Befehlshaber der UN-Friedensmission, die damals in Ruanda stationiert war, der kanadische General Dallaire, bat mehrfach vergeblich um Hilfe. Statt zu unterstützen, zogen fast alle Länder ihre Soldaten ab. Ruanda stand alleine da.
Von Uganda aus zog die Rebellenarmee RPF (Ruandische Patriotische Front) unter der Führung des heutigen Präsidenten Kagame gegen die Hutu-dominierte Armee und die Killer-Kommandos in den Krieg. Nach 100 Tagen war der Genozid an den Tutsi weitgehend gestoppt, die RPF hatte Kigali eingenommen. Fast eine Million Menschen, die Mehrheit Tutsi, aber auch oppositionelle Hutu, waren tot.
In Ruanda wurden seit April 2018 Hunderte weitere Massengräber entdeckt, nachdem die damaligen Angreifer die Behörden über die Orte informiert hatten.
Eine Gemeinschaft per Verordnung
Zurück blieb ein traumatisiertes Land. Nicht ein Mensch in Ruanda, der nicht direkt oder indirekt Opfer des Völkermords wurde. Neben den Überlebenden und deren Kindern sind da auch die Nachkommen der Täter. Ruandas Regierung beschwört heute die Einheit im Land, Frieden und Versöhnung. Hutu und Tutsi gibt es offiziell nicht mehr. Alle sollen einfach Ruander sein.
Das Land tut alles, um seine Vergangenheit abzuschütteln und nach vorne zu schauen. Ruanda gilt als eines der saubersten Länder Afrikas, das Straßennetz ist vorbildlich, Internetzugang und Mobilfunknetz ebenfalls. Außerdem fährt die Regierung eine strikte Antikorruptionspolitik, auch das ohne Beispiel in einer Region, die auf Bestechungsgelder baut.
Widerrede nicht geduldet
Auf der Kehrseite der Medaille steht die Unterdrückung von politischer Opposition und der Meinungsfreiheit. So hört man auch kein kritisches Wort über die Regierung oder den Präsidenten. Von niemandem. Fast scheint es, als müssten sich die Ruanderinnen und Ruander an der Stabilität des Landes und der makellosen Oberfläche festhalten, um mit der Vergangenheit fertig zu werden.
Akzeptieren, was passiert ist
"Wie es mir geht? Wenn ich über den Genozid spreche, ist das sehr schwer", sagt Alphonse. "Aber es ist ein Teil meiner Geschichte und ich habe damit gelebt und lebe immer noch damit. Ich habe akzeptiert, was geschehen ist. Ich habe keine andere Wahl."
Einige der Täter von damals leben nach Gefängnisstrafen heute wieder in seiner Nachbarschaft. Das sei in Ordnung, sagt der 30-Jährige, aber über die Vergangenheit wolle er keinesfalls mit ihnen sprechen. "Mein Ziel ist es, ein gutes Leben zu haben. Ich möchte auf keinen Fall, dass die Mörder meiner Familie sehen, dass ich arm oder traurig wäre. Ich könnte es nicht gut aushalten, wenn sie mich auch noch besiegen würden."
Kinder von Überlebenden und Tätern des Völkermords sitzen im Versöhnungsdorf Mbyo bei Nyamata gemeinsam vor einem Haus.
Stigmatisiert über Generationen
Auch wenn keiner darüber redet, jeder weiß, wer von der Täterseite und wer von der Opferseite kommt. Erst die Generation, die nach dem Völkermord geboren wurde, wird vielleicht zu wirklichen Ruanderinnen und Ruandern werden.
Eine Frau, die an der Gedenkstätte an der Kirche in Ntarama arbeitet, erzählt von ihrer Cousine, die ihr Leben lang überzeugt war, nie einen Hutu heiraten zu können. Im vergangenen Jahr hat sie geheiratet - einen Hutu. Einige in ihrer Verwandtschaft waren darüber entsetzt. Die Antwort der jungen Frau war eindeutig: "Ich liebe ihn!"