20. Jahrestag des Völkermordes in Ruanda "Die Welt war nicht da"
Esther Mujawayo hat den Völkermord in Ruanda überlebt. Aber ihr Mann und viele Verwandte wurden ermordet. Wochenlang lebte sie in Angst, entdeckt zu werden. Im Interview mit tagesschau.de spricht sie über den Genozid, seine Folgen und das Versagen der UN.
tagesschau.de: Der Völkermord in Ruanda kam nicht plötzlich, er hatte eine Vorgeschichte. Wie lebten Hutu und Tutsi vorher zusammen?
Esther Mujawayo: Seit Anfang der 1990er-Jahre herrschte in Teilen Ruandas Bürgerkrieg, vor allem im Norden des Landes. In der Hauptstadt Kigali haben wir davon allerdings nicht viel gemerkt. Es war, als ob parallele Welten existierten. Wir lebten ein ganz normales Leben mit unseren drei Kindern und unseren Verwandten, unser Haus war immer voll und fröhlich, wir kamen gut mit unseren Nachbarn aus, egal, ob sie Hutu oder Tutsi waren. Zugleich wussten wir alle, dass es seit 1959 immer wieder sporadisch Massaker an Tutsi gab. Unterschwellig war das immer gegenwärtig. Aber wir haben nichts dagegen unternommen.
tagesschau.de: Es gab ja im Jahr vor dem Beginn des Völkermords auch hoffnungsvolle Entwicklungen.
Mujawayo: Ein Jahr vor dem Genozid wurde der Friedensvertrag von Arusha geschlossen. Wir haben damals gedacht, dass nun der Frieden kommt. Die UN schickte Blauhelme, und wir nannten unsere Tochter Makoro - Frieden. Aber gleichzeitig wurde in den Medien gegen die Tutsi gehetzt, es gab ein berüchtigtes "Hass Radio", das Lieder spielte, in denen offen gesungen wurde "Lass uns sie vernichten, lass uns sie vernichten". In der Presse wurden die "Zehn Gebote für einen guten Hutu" veröffentlicht, in denen es etwa hieß "Du heiratest keine Tutsi" oder "Du arbeitest nicht mit Tutsi". Die Situation spitzte sich zu und es war klar, dass etwas passieren würde. Und doch haben wir auf die UN gehofft. Aber es war ein Fehler, auf die Welt zu warten, denn sie war nicht da.
tagesschau.de: Dann kam der April 1994, das Morden begann.
Mujawayo: Am Morgen des 7. April rief mich ein Kollege an und forderte uns auf, das Radio anzuschalten. Dort wurde ein Kommunique verlesen, in dem es hieß, dass der Staatspräsident ums Leben gekommen sei und niemand sein Haus verlassen dürfe. Dann wurde klassische Musik gespielt. Wir verstanden, dass es nun zu Gewalt kommen würde. Aber dass es so schnell gehen würde und dass die Gewalt so organisiert war, hätte ich nicht gedacht. Wir blieben zu Hause, waren ratlos. Von der Straße her war Geschrei zu hören, das Haus einer benachbarten Tutsi-Familie wurde in Brand gesteckt. Es hieß, sie seien ermordet worden. Dann flüchteten wir uns mit Kollegen in das Internat, in dem mein Mann Französisch unterrichtete. Es war wegen Ferien leer und es gab Vorräte. Das war unser Glück. Wir haben uns im Schlafsaal einquartiert und wussten bald, dass wir das Gebäude nicht verlassen konnten. Überall auf den Straßen waren Kontrollposten, wo nach Tutsi gesucht wurde.
tagesschau.de: Mussten Sie nicht fürchten, dort entdeckt zu werden?
Mujawayo: Irgendwer hat uns tatsächlich verraten. Am 30. April kamen während des Abendessens Hutu-Soldaten - sie wussten, dass wir dann alle da sein würden. Sie haben sofort Männer, Frauen und Kinder getrennt und die Männer und Jungen weggebracht. Auch mein Mann war darunter. Später haben wir erfahren, dass sie ihnen nach einem Fluchtversuch noch in der Nacht die Füße abgehackt haben. Wer überlebte, wurde am nächsten Morgen von den Milizen erschossen. Wir Frauen sind weiter in dem Gebäude geblieben, konnten ja nirgendwo hin und haben darauf gewartet, dass die Täter zurückkommen. Ich hatte furchtbare Angst. Aber sie kamen nicht.
tagesschau.de: Ein Fluchtversuch wäre aussichtslos gewesen?
Mujawayo: Mein damaliger Arbeitgeber Oxfam hat versucht, mich von der UN evakuieren zu lassen, aber das hat nicht funktioniert, obwohl die UN-Soldaten nur eine Meile entfernt untergebracht waren. Nach und nach habe ich erfahren, dass meine Eltern, meine Schwiegereltern und auch meine Schwester ermordet worden waren. Ich war immer verzweifelter, dachte mir aber, ich muss etwas tun, um meine Kinder zu retten. Zum Glück hatte ich noch 80 Dollar, und Anfang Juni gelang es mir dann, einen Soldaten zu bestechen. Er brachte uns in einem Pick-up in das berühmte "Hotel de Mille Collines". Damals waren fast alle Tutsi ermordet und die Straßensperren schon nachlässiger geworden.
Bedrohung führt zur Rettung
tagesschau.de: Aber auch in dem Hotel waren die Umstände dramatisch.
Mujawayo: Als wir ankamen, waren schon viele Tutsi evakuiert worden, aber es hielten sich immer noch Hunderte Flüchtlinge auf dem Gelände auf - in den Zimmern, im Restaurant, auf den Fluren. Und auch dort war die Bedrohung immer da. Die Milizen haben uns ständig von außen bedroht und beschimpft, und einmal verschaffte sich eine Miliz Zugang zum Gelände, trat die Türen ein und bedrohte auch die UN-Soldaten. Aber das war dann unser Glück. Daraufhin hat die UN beschlossen, das Hotel unbedingt zu evakuieren. Wir wurden dann noch im Juni in ein von den Tutsi kontrolliertes Gebiet und dann nach Uganda gebracht. Wenige Tage später war der Krieg vorbei und wir konnten nach Kigali zurückkehren.
tagesschau.de: Sie haben dann begonnen, nach ihren Verwandten zu suchen.
Mujawayo: Ich wollte anfangs nicht glauben, dass sie alle tot sein sollten und habe wochenlang nach ihnen gesucht. Das war schrecklich. So viele Menschen waren ermordet worden. Auch in der Familie meines Mannes. Die Häuser und Straßen waren zerstört, Bäume gefällt, Kühe geschlachtet worden - warum? Eine totale Vernichtung und Zerstörung. Es herrschte eine völlige Leere in den Menschen.
Die Leere nach dem Morden
tagesschau.de: Wie kann man nach einem solchen Morden noch zusammen leben?
Mujawayo: Die ganze Gesellschaft, alle Werte waren zerstört worden. Wir konnten niemandem mehr vertrauen. Aber wir hatten keine Wahl: Wir mussten weiter zusammen leben. Vor allem auf dem Land brauchten die Menschen einander. Wenn du Wasser holst, kannst du 20 Liter nicht alleine tragen. Da fragst Du nicht, ob jemand Hutu oder Tutsi ist. Und es gab auch Hutu, die Nachbarn geholfen hatten. Diese Leere zu füllen, das war die Aufgabe, vor der Ruanda stand.
tagesschau.de: Wie sehen Sie es - ist dies gelungen?
Mujawayo: Das Trauma bleibt natürlich, man muss weiter daran arbeiten. 20 Jahre sind dafür nicht viel und doch lang. Wir haben damals eine Witwenorganisation gegründet, das hat uns einen neuen Sinn gegeben. Wir bauten Häuser, fanden neue Schwestern, konnten zusammen weinen. Aber viele Mütter, die mit ansehen mussten, wie ihre Kinder ermordet wurden und die vergewaltigt wurden, sind mit ihren Verletzungen alleine geblieben. Um sie muss sich die Gesellschaft kümmern.
Mord wird nicht mehr toleriert
tagesschau.de: Hat der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda, der seit 1997 im tansanischen Arusha über Verantwortliche des Genozids richtete, bei der Vergangenheitsbewältigung geholfen?
Mujawayo: Insgesamt hat das Tribunal wenig erreicht. Aber es war als Symbol wichtig. Es hat gezeigt: Wer einen Tutsi tötet, wird bestraft. Das gab es vorher nicht. Wenn man heute nach Ruanda fährt, kommt man in ein schönes Land, in dem man sicher ist. Aber die Verletzungen sind unterschwellig noch da. Es ist wie ein Krebsgeschwür, das metastasiert, weil man keine Prävention gemacht hat.
tagesschau.de: Die Vereinten Nationen, die Staatengemeinschaft, hat in Ruanda versagt und dem Töten zugesehen. Ist dies hinreichend aufgearbeitet worden?
Mujawayo: Die UN hätten intervenieren müssen und haben weggeschaut. Nun ist es an der Zeit, etwas zu tun. Sie könnten einen Fonds auflegen, der den Überlebenden hilft, im Leben zurecht zu kommen. Es gibt immer noch viele Menschen, die behandelt werden müssen, medizinisch und psychotherapeutisch. Viele vergewaltigte Frauen, die an Aids erkrankt sind, können sich keine Medikamente leisten. Versehrte haben nicht genug Geld für eine Behandlung. Alte Menschen, die keine Verwandten haben, sind finanziell völlig auf sich allein gestellt. Manche Opfer wären in einem deutlich besseren Zustand, wenn man ihnen schnell geholfen hätte. Hier ist viel Zeit verschenkt worden. Und jetzt drängt die Zeit. Natürlich spenden viele Menschen. Aber ein Völkermord geht alle Staaten etwas an.
tagesschau.de: Sie leben in Deutschland, und auch hierhin haben sich Täter geflüchtet. Wie leben Sie damit?
Mujawayo: Ich begegne solchen Menschen, kann aber nichts dagegen tun. Diese Täter sind hier ganz normale Menschen und Nachbarn, niemand kann sich vorstellen, was sie getan haben sollen. Es ist gut zu wissen, dass sie nun vor Gericht gestellt werden und keinen Schutz mehr haben. Das ist ein Zeichen der Hoffnung und stärker als das Gefühl der Bitternis. Aber man muss auch feststellen, dass es keine Garantie gegen solches Morden gibt, dass keine Kultur und keine Erziehung davor schützen können.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de