Deutsche Hilfe für die Ukraine "Wenn ich könnte, würde ich jeden umarmen"
In der Ukraine wächst die Sorge, dass die Unterstützung im Westen nachlassen könnte. Neben militärischer Unterstützung benötigt das Land weiterhin humanitäre Hilfe. Wie diese zielgerichtet funktionieren kann, zeigt ein Projekt aus Neuss.
Serhii Olijnik schreitet über den schmalen Krankenhausflur, vorbei an umhereilendem Personal und wartenden Patienten. Er betritt einen kleinen Raum. Dieser ist fast leer - bis auf ein mit Monitor und Sonden ausgestattetes Gerät. Olijnik betrachtet es mit sichtbarer Freude: "Schauen Sie, es ist quasi betriebsbereit. Es hilft dabei, innere Organe zu untersuchen. Wobei, ich sehe, das Druckerpapier ragt etwas heraus. Na ja, ich schaue mir das nachher an."
Olijnik ist Direktor des zivilen städtischen Krankenhauses in Pawlohrad im Südosten der Ukraine. Das neue Ultraschallgerät kommt aus Deutschland. Erst vor kurzem wurde es geliefert - im Rahmen eines bilateralen Hilfsprojekts. Das Hospital kann sich aber auch über weitere gespendete Medizingeräte freuen, wie der Chirurg Olijnik erzählt: "Wir haben drei Ultraschallgeräte erhalten. Dazu zwei mobile Röntgengeräte, zwei Inkubatoren, zwei Patientenmonitore. Das alles wird dringend gebraucht, sowohl auf der Intensivstation als auch für die Pflege von Frühgeborenen auf der Entbindungsstation."
Olijnik bittet zu einem Rundgang durch die Abteilungen, plaudert mit Ärzten und Pflegerinnen. Grundsätzlich ist das Krankenhaus nicht schlecht ausgestattet. Doch Russlands Invasion hat die Lage zugespitzt, auch, weil sich die Rolle von Pawlohrad verändert hat. Statt wie früher 100.000 leben heute etwa 150.000 Menschen in der Stadt, davon viele Binnenflüchtlinge.
Medizinischer Ausnahmezustand - jeden Tag
Bis zur Front im Osten sind es rund 150 Kilometer. Durchgehend rauschen Militärfahrzeuge durch die Stadt. Das wirkt sich auf die Arbeit im Hospital aus, so Direktor Olijnik: "Allein psychologisch ist es schlimmer. Man weiß nie, was der nächste Tag bringt. Wenn man jemandem Gesundheit wünscht, sagt man: 'Ich wünsche dir Stabilität'. Diese Stabilität fehlt schon seit zwei Jahren. Man sieht viele Tote, Menschen ohne Beine oder Arme, und man muss irgendwie weiterleben."
Das müssen zum Beispiel verwundete Soldaten. Davon gebe es sehr viele, erzählt Olijnik mit ernster Miene. Wenn sie in Pawlohrad behandelt würden, seien sie oft nicht mehr kampftauglich. Zur allgemeinen psychischen Belastung kommen riskante Arbeitsbedingungen hinzu: "Es gibt häufig Luftalarm. Aber wir können es uns nicht leisten, nicht zu arbeiten. Manchmal ist es nicht möglich, Patienten in den Keller zu bringen. Wir wenden daher zumeist die Zwei-Wände-Regel an. Man kann Operationen oder Geburten nicht einfach unterbrechen."
In dieser Extremsituation erhält das Krankenhaus in Pawlohrad Unterstützung aus Nordrhein-Westfalen. Die Lieferung der Medizingeräte hat der Verein "Neuss hilft" auf den Weg gebracht. Deren Sprecher Max Lennertz erklärt die Hintergründe: "Das Projekt in Pawlohrad ist dadurch entstanden, dass wir uns im letzten Jahr sehr stark für eine Städtepartnerschaft zwischen Neuss und einer Stadt in der Ukraine eingesetzt haben. Vornehmlich in der Region Dnipropetrowsk, das ist die Partnerregion von NRW. Wir haben ein bisschen Druck ausgeübt, auf verschiedenen Ebenen. Und im Ergebnis ist eine Solidaritätspartnerschaft entstanden."
Hilfe gezielter, schneller, effektiver leisten
Seit Beginn der russischen Invasion gibt es immer mehr solcher Partnerschaften. "Neuss hilft" fülle sie mit Leben, so Lennertz. Der Verein hat viel Erfahrung in ehrenamtlicher humanitärer Hilfe und ein großes Netzwerk. Einige Projekte werden mit Videos auf sozialen Netzwerken beworben.
Die Medizingeräte für Pawlohrad hat ein befreundetes Sozialunternehmen organisiert. Der genaue Bedarf wurde zuvor zwischen den Städten Neuss und Pawlohrad ermittelt. Auch der Transport in die Ukraine verlief einwandfrei. Lennertz hält solidarische Partnerschaften deshalb für ein gutes Konzept: "Grundvoraussetzung ist aber, dass eine solche Städtepartnerschaft ernst genommen wird. Und so kann humanitäre Hilfe womöglich gezielter, schneller und mit mehr Effektivität umgesetzt werden", sagt er.
Lennertz ist aber auch nachdenklich. Insgesamt lasse die Hilfsbereitschaft in Deutschland nach, beobachtet er. Sorgen bereitet ihm auch die angespannte politische Stimmung sowie der Aufstieg der AfD. Gleichzeitig erinnert er an den weiterhin enorm gefährlichen Alltag in der Ukraine, etwa angesichts permanent drohender Luftangriffe: "Ja, ich kann nachvollziehen, dass Bürgerinnen und Bürger unzufrieden sind. Dass sie sich Sorgen machen wegen steigender Lebenshaltungskosten. Trotzdem sage ich immer wieder: Solange wir ins Bett gehen können, ohne Angst zu haben, die Nacht womöglich nicht zu überleben, geht es uns verdammt gut."
"Wir wollen, dass die Ukraine ein normales Land wird"
Im städtischen Krankenhaus in Pawlohrad weiß Direktor Olijnik die Unterstützung aus Neuss zu schätzen. Beinahe gerührt sagt er: "Wissen Sie, Worte allein reichen dafür nicht. Man hätte in Deutschland ja sagen können - 'Na ja, ihr kämpft dort drüben, aber bitte ohne uns.' Aber die Menschen helfen uns. Dafür danke ich ihnen sehr. Wenn ich könnte, würde ich jedem die Hand schütteln und jeden umarmen."
Nach bald zwei Jahren russischer Invasion ist auch der Chirurg erschöpft. Dennoch versucht er, Zuversicht auszustrahlen. Und nennt seinen Wunsch für die Zukunft: "Wir sind nicht in einem feudalen System und wollen keine Eroberungskriege führen. Wir wollen, dass unsere Ukraine ein unabhängiges, wohlhabendes und normales europäisches Land wird."