Türken stimmen für Verfassungsreform "Wir schlagen eine neue Seite auf"
Das türkische Volk hat für eine Reform der Verfassung gestimmt. Ministerpräsident Erdogan sprach vor Anhängern von einem "Sieg für die Demokratie". Seine Partei AKP geht jetzt gestärkt in den Wahlkampf im kommenden Jahr. Die EU-Kommission begrüßte das Ergebnis als "Schritt in die richtige Richtung".
Von Steffen Wurzel, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Wie ein Popstar wurde Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf der Wahlparty von seinen Anhängern empfangen. Immer wieder unterbrachen die Zuschauer die lange Siegesrede des Premierministers. Erdogan betonte, keine Partei, sondern die türkische Demokratie sei der eigentliche Gewinner der Abstimmung.
Und der Premierminister betonte erneut die Bedeutung des 12. Septembers, des Datums des Referendums. Am 12. September 1980, exakt vor 30 Jahren, hatten türkische Militärs geputscht und in der Folge die so genannte "Putschistenverfassung" erlassen. Diese war bisher in großen Teilen unverändert gültig und wird nun durch den Ausgang des Referendums reformiert.
"Das Datum des 12. Septembers wurde bisher durch die Putschistenverfassung beschmutzt. Mit dieser Volksabstimmung, auch an einem 12. September, beginnt nun eine neue Zeitrechnung für die Demokratie. Wir schlagen damit eine neue Seite auf und beseitigen den Schmutz", sagte Erdogan.
Überraschend klares "Ja"
Die Türken haben mit überraschend deutlicher Mehrheit für die Verfassungsreform gestimmt. Rund 58 Prozent der Wähler votierten mit ja, 42 Prozent dagegen. Bis zuletzt hatten etliche Meinungsforscher ein Kopf-An-Kopf-Rennen beider Lager vorhergesagt. Rund 78 Prozent der Wahlberechtigten haben sich an dem Referendum beteiligt.
Besonders hoch war die Zustimmung im Osten der Türkei, in den Kurdengebieten des Landes. Dort hatten kurdische Parteien und Gruppen die Bevölkerung aufgerufen, die Abstimmung zu boykottieren. In der Hauptstadt Ankara stimmten etwa 57 Prozent für "Ja", in Istanbul waren es rund 56 Prozent.
Erdogan gab sich bei der Wahlparty in Istanbul betont staatsmännisch. Die Abstimmung werde in die Geschichte der Türkei eingehen, sagte er: "Man wird sich an Euch erinnern - man wird sich an uns erinnern."
Macht des Militärs beschnitten
Durch die Reform werden zahlreiche Bürgerrechte in der Verfassung verankert. Unter anderem werden Kindern und Arbeitnehmern mehr Rechte eingestanden, außerdem wird der Datenschutz gestärkt. Das türkische Militär verliert weiter an Einfluss. Die noch lebenden Putschgeneräle von 1980 können künftig vor Gericht gestellt werden, außerdem werden die Befugnisse der Militärgerichte eingeschränkt.
Schließlich bekommt das türkische Parlament mehr Einfluss bei der Auswahl der obersten Richter des Landes. Besonders dieser Punkt war im Wahlkampf von den Oppositionsparteien als Angriff auf die Gewaltenteilung kritisiert worden. Nach Ansicht von Ministerpräsident wird die Türkei durch die Justizreform demokratischer und europäischer.
Erdogans AKP geht gestärkt in den Wahlkampf
Erdogan wiederholte auf der Wahlparty seine Absicht, die türkische Verfassung weiter zu reformieren. "Ab morgen werden wir mit unseren Gremien beraten und einen Fahrplan für weitere Verfassungsänderungen ausarbeiten."
Für Erdogans politischen Gegner, den neuen Vorsitzenden der kemalistisch orientierten CHP, Kemal Kilicdaroglu bedeutet das Abstimmungsergebnis eine Niederlage. Er hatte die Bevölkerung aufgefordert, Regierungschef Erdogan durch ein "Nein" einen Denkzettel zu verpassen.
Klarer Gewinner des Referendums ist die regierende religiös-konservative AKP von Ministerpräsident Erdogan. Er geht nach dem klaren "Ja"-Votum der Bürger gestärkt in den Wahlkampf zur Parlamentswahl im kommenden Jahr.