Kommission beantragt Strafverfahren EU geht gegen Polen bis zum Äußersten
Es ist ein beispielloses Verfahren, das die EU-Kommission gegen Polen in Gang setzt: Im Streit um die Justizreform beantragte sie ein Strafverfahren, das in letzter Konsequenz bis zu einem Stimmrechtsentzug führen kann. Doch die Hürden sind hoch.
Die EU-Kommission bringt das schwerste juristische Geschütz in Stellung, das gegen EU-Staaten möglich ist, denen Verstöße gegen Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratie vorgeworfen werden. In Brüssel ist auch von einer "nuklearen Option" die Rede, weil die möglichen drastischen Folgen für EU-Staaten drastisch sein können.
Ein langer Weg bis zur Genehmigung
Im vorliegenden Fall könnte in letzter Konsequenz der polnischen Regierung das EU-Stimmrecht entzogen werden. Bis dahin ist es ein langer Weg. EU-Kommissionsvize Frans Timmermans ist fest entschlossen, ihn zu gehen, obwohl er nicht ohne Risiko ist - auch für die EU-Kommission: "Wir haben uns seit zwei Jahren um einen Dialog mit Polen bemüht, die Lage hat sich aber nicht verbessert. In diesem Jahr war die polnische Regierung überhaupt nicht mehr zu einem Dialog bereit. Über unsere Bedenken bei der Justizreform wollte man nicht diskutieren", so begründete Timmermans sein weiteres Vorgehen. Die Konsequenz: Die EU-Kommission beantragt zum ersten Mal das Strafverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge.
Timmermans betonte, die EU bleibe dialogbereit.
Das bedeutet nicht, dass es tatsächlich auch so kommt. Der nächste Schritt ist die Genehmigung. Vier Fünftel der EU-Mitgliedstaaten müssen dafür grünes Licht geben. Das werden sie tun, wenn sie die Ansicht der EU-Kommission teilen, dass Polen dabei ist, die Unabhängigkeit der Justiz praktisch abzuschaffen und damit gegen die Gewaltenteilung in einer Demokratie verstößt. Diese Sorgen teilten viele internationalen Organisationen, erklärte Timmermans, unter anderem von den Vereinten Nationen und von der OECD.
Dialog ist weiterhin möglich - und erwünscht
Trotzdem ist nicht ausgemacht, ob die EU-Mehrheit für den tatsächlichen Start des Verfahrens erreicht wird. Deutschland hat schon klar gemacht, das Verfahren unterstützen zu wollen. Andere Länder zögern aber noch. Falls die Vierfünftel-Mehrheit nicht erreicht wird, wäre das eine große Blamage für die EU-Kommission. Timmermans versicherte aber auch: Eine De-Eskalation sei möglich, falls sich Polen zu Verhandlungen über die Justizreform bereit erklären würde: "Wir stehen dafür jeden Tag bereit!"
Dass die polnische Regierung darauf eingeht, damit rechnet in Brüssel niemand. Aber auch nicht mit tatsächlichen Sanktionen gegen Polen. Die sind mit noch höheren Hürden verbunden. Dann müssen alle EU-Staaten zustimmen - natürlich ohne Polen. Dass es dazu kommt, gilt als unwahrscheinlich. EU-Staaten könnten sich in diesem Fall gegenseitig schützen. Die ungarische Regierung hat schon klar gemacht, dass sie Sanktionen gegen Polen nie mittragen würde.
Ein Stimmenentzug wäre nur vorübergehend
Aber selbst wenn das passieren würde: Auch ein Stimmenentzug auf EU-Ebene wäre nur vorübergehend. Danach würde auch Polen wieder als voll rehabilitiert gelten - egal, ob sich die Lage im Land tatsächlich verbessert hat. Ein Ausschluss Polens aus der EU ist nicht möglich. Hier kann man nur freiwillig gehen.
Auch finanzielle Sanktionen sind so schnell nicht möglich. Dazu fehlt der EU-Kommission die Handhabe. Der aktuelle Förderrahmen läuft noch bis zum Jahr 2020 und kann auch nicht mehr zu Lasten Polens eingeschränkt werden. Das wäre allenfalls danach in engen Grenzen möglich, aber auf jeden Fall ein scharfes Schwert: Polen ist der größte Netto-Empfänger in der EU.
Weniger EU-Gelder? Eine neue Kern-EU?
Die zentrale Frage bleibt: Nutzen Sanktionen überhaupt etwas, um aufmüpfige EU-Mitglieder zu bändigen? In viele EU-Ländern gibt es Zweifel. Vor allem in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron hätte lieber eine Grundreform der EU und wohl auch eine Erneuerung der EU-Verträge, die derartige Konflikte gar nicht erst entstehen lassen: Vertragskonforme Staaten könnten enger zusammenrücken - zum Beispiel im Euroraum oder für die gemeinsame Verteidigungsunion. EU-Staaten, die das nicht leisten wollen, bleiben außen vor. Diese Debatte, beflügelt durch den Brexit und jetzt durch das Strafverfahren gegen Polen, könnte schon bald beginnen und auch die geplante EU-Reform in eine neue Richtung steuern.