Bildschirm mit dem neuseeländischen Premierminister Christopher Luxon im Parlament

Missbrauch in Neuseeland Das Trauma bleibt - auch nach der Entschuldigung

Stand: 12.11.2024 08:58 Uhr

Jahrzehntelang wurden in Neuseeland Schutzbedürftige in staatlicher Obhut missbraucht. Das ist Ergebnis einer Untersuchungskommission. Der Premier entschuldigt sich, Betroffene aber fordern mehr.

Moeapulu Frances Tagaloa war fünf Jahre alt, als sie missbraucht wurde. "Er war ein beliebter und bekannter Lehrer. Aber er war auch ein Pädophiler, und leider hat er auch andere Mädchen in seiner Obhut missbraucht". Sie hatte die Erinnerungen lange verdrängt, erzählt sie einem Reporter der Nachrichtenagentur Reuters: "Erst als Erwachsene bekam ich auf einmal Flashbacks, das war sehr traumatisch, ich musste das erst verarbeiten. Das hat eine Weile gedauert."

Schätzungsweise 200.000 Menschen wurden in Neuseeland in staatlicher Obhut, in Schulen, Psychiatrien, Pflegefamilien und religiösen Einrichtungen missbraucht. Über einen Zeitraum von 70 Jahren, zwischen 1950 und 2019.

"Es hätte nie passieren dürfen"

Tagaloa war eine von mehr als 2.000 Überlebenden, die ihre Geschichte mit einer Untersuchungskommission geteilt hat. Die Ergebnisse wurden im Juli veröffentlicht und hatten weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Nun hat sich Regierungschef Christopher Luxon im Parlament offiziell bei den Opfern entschuldigt: "Es war grauenhaft. Es war herzzerreißend. Es war falsch. Und es hätte nie passieren dürfen."

Kinder und schutzbedürftige Erwachsene, unter ihnen viele indigene Maori und Menschen mit Behinderung, hätten Schreckliches aushalten müssen, wie Sterilisationen und Elektroschocks. Sie wurden körperlich, sexuell, verbal oder psychisch missbraucht. Die Regierung räumte erstmals ein, dass die Behandlung einiger Kinder in einem staatlichen Krankenhaus der Folter gleichkam.

"Der Missbrauch hatte nicht nur für Sie, sondern auch für die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen, verheerende Folgen: für Ihre Partner, Kinder und Enkelkinder", richtete sich Premier Luxon an die Betroffenen. "Einigen Eltern wurde gesagt, dass es das Richtige sei, ihre Kinder in staatliche Obhut zu geben. Sehr oft war das aber nicht der Fall. Es tut mir leid für diese Eltern, dass wir uns nicht um Ihre Kinder gekümmert haben, als wären es unsere eigenen."

Auch auf die Familie von Tagaloa hat das Erlebte bis heute Auswirkungen. Erst als sie sich der Untersuchungskommission anvertraute, erzählte sie auch ihrem Mann und zwei Söhnen von ihrer Vergangenheit: "Das war eines der schwierigsten Dinge, die ich je getan habe, ihnen zu erzählen, was mir passiert ist. Es war schwer für sie, ich habe ihnen den Schmerz angesehen."

Folgen des Missbrauchs dauern an

Viele Überlebende leiden bis heute an den Folgen, die von Traumata über Suchtprobleme bis hin zu Bildungs- und Beziehungsproblemen reichen. "Ich glaube, es gibt so viele Auswirkungen des Missbrauchs. Ich leide immer wieder unter Depressionen", berichtet Tagaloa. "Allein das Trauma der Erinnerung an den Missbrauch, es lebt einfach mit dir und die Erinnerungen können durch die einfachsten Dinge des Alltags ausgelöst werden."

Besonders gefährdet seien Angehörige der indigenen Maori-Gemeinschaft gewesen sowie Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Lange wurde den Opfern nicht geglaubt. Dabei war laut des Untersuchungsberichts fast ein Drittel der Kinder, Jugendlichen und schutzbedürften Erwachsenen betroffen. Auch dafür entschuldigte sich Premierminister Luxon: "Es tut mir leid, dass viele Unbeteiligte - Mitarbeiter, Freiwillige und Pflegekräfte - weggeschaut haben und den Missbrauch nicht gestoppt oder gemeldet haben."

Mehrere Milliarden Dollar Entschädigung möglich

Am Anfang der Entschuldigung wurde Luxon von einem Indigenen auf der Zuschauertribüne unterbrochen. Einige Überlebende und Anwälte kritisieren die Regierung, weil sie noch keine Pläne für eine finanzielle Entschädigungen bekannt gegeben hat. Nach Schätzungen könnten den Opfern mehrere Milliarden Dollar zustehen.

In seiner Entschuldigung kündigte Regierungschef Luxon mehrere Reformen an: mehr Geld fürs Pflegesystem, die Entfernung von Gedenkstätten oder Straßennamen, die Täter ehren. Der 12. November im kommenden Jahr werde ein nationaler Gedenktag. Auch um zu prüfen, ob alles getan wurde, um so einen Missbrauch in Zukunft zu verhindern.

Jennifer Johnston, ARD Singapur, tagesschau, 12.11.2024 08:07 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. November 2024 um 12:26 Uhr.