Proteste gegen Orban "Ungarn hat keine Demokratie mehr"
Ungarn erlebt die größten Proteste der vergangenen Jahre. Auslöser war das umstrittene Arbeitszeitgesetz. Doch inzwischen geht es um viel mehr. Orbans Regierung wittert hingegen ein Komplott.
Es sind nicht jeden Abend mehrere Tausend Demonstranten, die sich vor dem ungarischen Parlament einfinden - an diesem Wochentag mögen es vielleicht 100 Menschen sein, überwiegend junge Leute, die bei Minusgraden auf dem weiten Kossuth Platz ausharren. Sie breiten eine überdimensionale Europa-Fahne aus und lassen mit lauten "Europa"-Rufen auch akustisch keinen Zweifel aufkommen, wem sie sich verbunden fühlen.
"Es geht um unsere Zukunft, um die Zukunft von allen - nicht allein um diejenigen, die heutzutage arbeiten", sagt ein junger Geschichts- und Geografielehrer. Er sei gekommen, "um den Leuten zu zeigen, dass wir hier sind. Ich bin jung und habe erst vor einem halben Jahr mein Studium beendet. Ich habe mich entschieden, hier zu sein, um zu zeigen, dass wir jeden Tag hierher kommen sollten."
"Alle reden über die Proteste"
Der junge Mann hat am Kragen seines Wintermantels einen kleinen Button der unabhängigen, liberalen Partei "Momentum" angeheftet, die bei den letzten Wahlen im April nicht den Einzug ins Parlament geschafft hatte. Aber die Demonstrationen, die seit der Verabschiedung des umstrittenen Arbeitszeitgesetzes am 12. Dezember in unterschiedlicher Intensität anhalten, hätten Wirkung erzielt, sagt er.
"Alle reden über die Proteste und das neue Gesetz, das ist das Wichtigste", sagte er. Das sei ein neues Phänomen im Ungarn unter Regierungschef Viktor Orban. "Budapest hat diese Art von Demonstrationen in den vergangenen zehn Jahren nicht gesehen."
Die Proteste stellen Ungarns Premier Orban vor ganz neue Herausforderungen.
Die seit knapp zwei Wochen andauernden Aktionen richten sich nicht mehr allein auf den eigentlichen Anlass - die Ausweitung der erlaubten Überstundenanzahl von 250 auf 400 im Jahr. Es geht mittlerweile um Freiheitsrechte, um Medienfreiheit, um eine unabhängige Justiz.
Gymnasiasten, Arbeiter, Oppositionspolitiker, Studenten, sowie Rentner beteiligen sich regelmäßig an den Demonstrationszügen durch die Innenstadt von Budapest - vergleichbares findet in einem weitaus geringerem Umfang auch in den übrigen Städten des Landes statt, in Szeged, Derberzen, Pecs.
Kurswechsel der Opposition?
Bereits zu Beginn der Proteste deutete sich ein Kurswechsel der Oppositionsparteien ab, die sich eingestehen mussten dass sie mit ihrer bisherigen innenpolitischen Vorgehensweise gescheitert waren. Vor den Parlamentswahlen im April hatten sie sich in keinem einzigen Wahlbezirk auf eine gemeinsame Liste einigen können, um eine realistische Chance gegen Kandidaten der regierenden Fidesz-Partei von Ministerpräsident Orban zu haben.
Dieses Mal treten Abgeordnete der rechtsradikalen Jobbik-Partei zusammen mit liberalen und sozialdemokratischen Parlamentariern auf. Ob daraus ein tragfähiges Bündnis von Dauer werden wird, scheint jedoch fraglich.
Feindbild Soros
Die unabhängige Politikerin Bernadett Szel, die am vergangenen Montag an der Protestaktion im staatlichen Rundfunk teilgenommen hat, beschreibt die Herausforderung für die Oppositionsparteien so: "Ungarn hat keine Demokratie mehr. Und nach Montag muss ich sagen, dass wir nahe an einer Diktatur sind."
Sie wolle ihre Land in einer Lage sehen, in der es demokratische Debatten darüber gebe, wie die Bürger über politische Parteien denken, sagt Szel. "Diese Gelegenheit haben wir nicht. Wir sind alle in der gleiche Situation. Und wenn wir nichts tun, werden sie uns schwächen."
Die Regierung antwortet auf die Bewegung mit einer Mischung aus harschen Vorwürfen und altbekannten Beschuldigungen: Hinter den Demonstranten stünde niemand anderes als der US-Milliardär George Soros, der seit Beginn der Flüchtlingskrise zum omnipräsenten zum Lieblingsfeind der regierungsamtlichen Rhetorik geworden ist. Mitglieder des Soros-Netzwerks hätten die "bekannte Methoden eingesetzt", sagt der Regierungssprecher Istvan Hollik. "Um alle zu verängstigen, die nicht mit ihnen einverstanden sind".