Opioid-Krise in den USA Der verheerende Siegeszug von Fentanyl
In den USA sind im vergangenen Jahr 90.000 Menschen an einer Überdosis Drogen gestorben. Jeder zweite nahm Fentanyl, das meist aus China stammt. US-Journalist Ben Westhoff hat die Hintergründe recherchiert.
Die Opioid-Krise hat die USA weiter im Griff - trotz oder vielmehr wegen der Corona-Pandemie. Und nach verschreibungspflichtigen Medikamenten und Heroin ist das Hauptproblem jetzt das noch viel gefährlichere Fentanyl, ein synthetisches Opioid, dass langsam auch in Europa zum Problem wird. Der US-Journalist Ben Westhoff hat über den verheerenden Siegeszug von Fentanyl ein Buch geschrieben - heute erscheint es auch in Deutschland.
Jack stammt aus einem gepflegten Vorort in St. Louis im Mittleren Westen. Der Vater ist Ingenieur, die Mutter Köchin. Eine intakte Durchschnitts-Familie. Schon als Schüler experimentiert Jack mit Drogen. Mit 20 ist er süchtig - erst nach Heroin und bald nach Fentanyl. Für ein mexikanisches Kartell vertickt er das synthetische Opioid auch an seine Freunde und Bekannten. Einige sterben. Jack, der eigentlich anders heißt, ist Opfer und Täter - und einer der Protagonisten in Ben Westhoffs Buch "Fentanyl".
20 Jahre Opioid-Krise in den USA
"Wie so viele passte er eigentlich gar nicht in das Profil eines typischen Drogenabhängigen", so Westhoff. "Und er war auch kein geldgeiler, skrupelloser Drogendealer. Sondern er war einfach nur so süchtig, dass er seinen moralischen Kompass verlor. Es ging nur noch darum, seine Sucht zu befriedigen."
Seit über 20 Jahren tobt die Opioid-Pandemie in den USA. Jedes Jahr sterben Zehntausende an einer Überdosis. In den ersten Jahren waren es vor allem verschreibungspflichtige Schmerzmedikamente wie Oxycontin - die tödliche Suchtgefahr hatten der Hersteller und die Großhändler bewusst verheimlicht.
Inzwischen dominiert längst Fentanyl den Markt - ursprünglich gedacht für Krebspatienten im Endstadium. Der Wirkstoff - 100 Mal so potent wie Morphin - kann schon in winzigen Dosen zum Atemstillstand führen. Und er wird mittlerweile fast allen illegalen Drogen beigemischt, sagt Autor Westhoff.
Fetanyl ist wirksamer und billiger
"Die meisten Leute wollen eigentlich gar kein Fentanyl, aber es ist soviel wirksamer und soviel billiger, dass die Drogenhändler es in Heroin und mittlerweile alle anderen Drogen mischen - Kokain, Meth und Schmerzmedikamente. Einfach, um Kosten zu sparen."
Den Siegeszug dieser besonders tödlichen Designer-Droge und seiner vielen Ableger beschreibt Westhoff bis ins kleinste Detail: vom Labor des belgischen Pharmazeuten Paul Janssen bis in die Armbeuge der Abhängigen. Dutzende Interviews hat er mit Konsumenten und Produzenten geführt. Er war deshalb sogar Undercover in Wuhan in China - allerdings noch vor der Pandemie.
"Wie die meisten Amerikaner hatte ich vorher nie etwas von Wuhan gehört. Ich besuchte diese Firma, die mehr Fentanyl-Rohstoffe verkauft als jede andere auf der Welt" berichtet Westhoff. "Ich war schockiert darüber, Hunderte von jungen Verkäufern hinter ihren Trennwänden im Großraumbüro zu sehen und das Zeug ganz offiziell zu verkaufen, übers Telefon oder Social Media. Es sah alles so professionell aus."
Rohstoffe kommen aus China
Dass ausgerechnet China die USA mit Drogen versorgt, wundert Westhoff nicht, denn da gelte das gleiche wie bei allen anderen Produkten: China macht sie billiger.
Über mexikanische Drogenkartelle oder per Bestellung aus dem Darknet und per Post landen die Rohstoffe dann in den USA - und werden von Drogenhändlern in ihren Wohnungen zu Pillen oder Pulvern weiterverarbeitet. Und das erklärt laut Westhoff auch, warum so viele Konsumenten überdosieren.
"Es ist fast unmöglich, als Amateuer-Chemiker diese Chargen vernünftig zu mixen. Pharmazeuten können so was" sagt Westhoff. "Aber Fentanyl ist so stark, dass bei traditionellen Mischmethoden sogenannte Hotspots entstehen. Das heißt: Bei einer Pille merkst Du vielleicht gar nichts. Und die nächste bringt dich um."
Pandemie verursacht neuen Höchstwert an Drogentoten
Westhoff hat sein Buch vor der Pandemie geschrieben. Aber Covid hat alles nur noch schlimmer gemacht: Laut ersten offiziellen Statistiken sind 2020 fast 90.000 Menschen an einer Überdosis gestorben, ein neuer Rekord. In über der Hälfte der Fälle war Fentanyl im Spiel. Und anders als zu Beginn der Opioid-Krise vor zwei Jahrzehnten leben ihre Opfer nicht mehr nur in abgehängten Regionen auf dem Land, sondern auch in den Großstädten.
"Die Leute haben nicht den gleichen Zugang zu Behandlung, es ist schwerer, auch nur simple Unterstützung zu bekommen. Ganz zu schweigen von Arbeitslosigkeit und Depression, die manche Leute ja erst dazu bringen, diese Drogen zu nehmen", so der Autor.
Noch ist Fentanyl vor allem ein nordamerikanisches Problem. Aber Westhoff warnt, dass sich das schnell ändern könnte. Für sein Buch hat er einen jungen Mann in Deutschland interviewt, der im Darknet Designer-Drogen vertreibt. "Die mexikanischen Kartelle sind auch in Europa aktiv. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch hier anfangen, andere Drogen mit Fentanyl zu versetzen, um Kosten zu sparen."