Interview mit ARD-Korrespondent Stephan Stuchlik "Eine neue Revolution ist unwahrscheinlich"
Vor zwei Jahren waren die Straßen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew vom Orange der Bewegung um Präsident Juschtschenko bestimmt. Heute dominiert dort das Blau seines politischen Gegner Janukowitsch.
Zwei Jahre mach der orangenen Revolution werden die Straßen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew von einer neuen Farbe dominiert: Das Orange ist dem Blau der politischen Gegner von Präsidenten Juschtschenko gewichen. ARD-Korrespondent Stephan Stuchlik erklärt im Gespräch mit tagesschau.de die aktuelle Situation.
tagesschau.de: Der Machtkampf in der Ukraine zwischen dem westlich orientieren Präsidenten Juschtschenko und der pro-russischen Regierung von Ministerpräsident Janukowitsch wird von Tag zu Tag verfahrener. Wie konnte es dazu kommen?
Stephan Stuchlik: Die drei wichtigsten Politiker der Ukraine sind untereinander so zerstritten, dass das ganze Land handlungsunfähig ist. Das ist zum einen Ministerpräsident Viktor Janukowitsch vom "blauen Lager", zum anderen Präsident Viktor Juschtschenko und die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko vom "orangenen Lager". Die Blauen können nicht mit den Orangenen, die Orangenen nicht untereinander. So lange sich diese Situation nicht ändert und die Politiker innere Reife annehmen, wird es weder vor- noch zurückgehen.
Gäbe es Neuwahlen, wie Juschtschenko es anstrebt, würde die ganze Situation zwar auf Null gestellt. Die Machtverteilung würde danach jedoch genau so aussehen wie bei der Wahl vor einem Jahr: Die beiden Blöcke sind genau gleich stark, das Patt würde fortbestehen. Es liegt daher weiter an den Politikern - und die sind unfähig, sich in wechselnden Koalitionen oder Kompromissen zu einigen.
tagesschau.de: Wie könnte eine Lösung aussehen?
Stuchlik: Der erste Schritt wäre ein Sinneswandel der Regierenden, nach dem Motto: Wir müssen zusammenstehen, egal auf welchen Seiten wir stehen oder wie wir uns - wie Juschtschenko und Timoschenko - in der Revolution zerstritten haben. Demokratie lernen heißt Kompromisse schließen lernen. Sonst käme nur ein Personalwechsel in Frage. Der ist jedoch bei keiner der Seiten absehbar, weil von unten nichts nachkommt. Beide Lager sind zudem im Prinzip mit ihrem Politikern ziemlich zufrieden. Insgesamt ist das Land innen- wie außenpolitisch dadurch komplett gelähmt. Eine neue Revolution ist allein deshalb schon unwahrscheinlich, weil der Druck von der Straße nicht ausreicht. Die Blauen versuchen, ihn zu erhöhen, aber das gelingt nur zum Teil.
tagesschau.de: Ist das ganze tatsächlich in erster Linie ein politischer Streit oder sitzen die Strippenzieher womöglich ganz woanders?
Stuchlik: Das ist in der Ukraine, wie wohl auch in jedem anderen Land, kaum zu trennen. Es gibt eine klare geographische Trennung: Die Industriegebiete im Osten waren immer schon pro-russisch, die Menschen sprechen dort Russisch. Die westlich orientierte Seite sucht dagegen den Anschluss an Europa. Beiden Seiten liegen natürlich wirtschaftliche Interessen zugrunde. Der Industrie im Osten liegt Russland näher, weil es nicht nur Hauptexportland, sondern sie von dort auch ihre Maschinen bezieht. Dem Westen liegt die EU näher - das war auch ein wichtiger Grund, warum die orangene Revolution von vielen Wirtschaftstreibenden unterstützt wurde. Sie hofften auf eine Öffnung, Liberalisierung des Landes, damit sie die Chance bekommen, ihre Güter in den Westen zu exportieren.
tagesschau.de: Wenn man die Bilder aus Kiew betrachtet, hat sich offenbar auch die Stimmung im Volk gedreht. Heute dominieren dort nicht mehr wie 2004 die orangenen Flaggen der Jutschschenko-Angänger, sondern die blauen der anderen Seite. Wie kommt das?
Stuchlik: Die orangene Seite wird von Idealismus und dem Willen, das Land zu verändern, getragen. Dieser Geist ist völlig verschwunden. Die Orangenen bekommt man nur mobilisiert, wenn es um Themen wie Presse- und Meinungsfreiheit geht. Darum geht es im Moment nicht - die Anhänger sind enttäuscht, einige ihrer Abgeordneten habe ja bereits die Seite gewechselt.
Die Blauen haben dagegen einen großen Vorteil. Sie haben ein klar definiertes politischen Programm, wissen genau, wo sie hin wollen. Sie haben jetzt Geld und organisatorisch seit 2004 aus ihren Fehlern gelernt. Janukowitsch ist mit Sicherheit durch eine Rhetorikschule gegangen. Was sie früher taktisch falsch gemacht haben, läuft jetzt richtig: Sie haben den zentralen Platz besetzt, eine Bühne gebaut, Anhänger aus dem ganzen Land herangefahren. Die Orangenen sind so zerstritten, dass sie nicht in der Lage sind, eine Gegenbewegung auf die Straße zu bringen.
tagesschau.de: Ist die Stimmung in Kiew repräsentativ für das ganze Land?
Stuchlik: Der Machtkampf ist im ganzen Land das Thema Nummer Eins. Sämtliche Nachrichtensendungen berichten ständig - es gibt im Fernsehen Sondersendungen im Halbstundentakt. Die Stimmung in den Provinzen wird gerade von der politischen Führung abgefragt. Bürgermeister und Provinzgouverneure melden sich aus dem ganzen Land zu Wort - entweder für die eine oder die andere Seite. Die Aufteilung ist keine Überraschung: Die westlichen für Juschtschenko, die im Osten für Janukowitsch.
Die Stimmung in der Ostukraine ist mit der in Kiew deckungsgleich. Dort sind, abgesehen von ein paar Kommunisten, überall nur Blaue zu sehen, auch in der östlichen Industriemetropole Donets'k. Die Orangenen sind komplett verschwunden - das war 2004 anders. Sie müssen sich erst einmal reorganisieren. Bis dahin haben die Blauen das Heft in der Hand, sowohl in Kiew wie auch im Osten.
Die Fragen stellte Wulf Rohwedder, tagesschau.de