Autor Jonathan Littell zur Lage in Syrien "Das Regime ist dem Untergang geweiht"
Nur wenigen westlichen Reportern gelang es bisher, in Syrien zu recherchieren. Der Autor Jonathan Littell verbrachte im Januar 15 Tage in der Protesthochburg Homs. Im Interview mit tagesschau.de beschreibt er die Arbeitsbedingungen vor Ort und wie brutal die syrische Führung gegen die Opposition vorgeht.
tagesschau.de: In Ihren Reportagen aus der syrischen Stadt Homs beschreiben Sie sehr drastische Ereignisse wie Folterungen von Verletzten in Krankenhäusern. Wie bedrückend waren die Tage in Syrien im Vergleich zu Ihren Aufenthalten in anderen Konfliktgebieten?
Jonathan Littell: Ich denke, man kann Kriege nicht wirklich miteinander vergleichen. Tschetschenien war grässlich. Aber in Syrien habe ich definitiv eine der grauenhaftesten Formen von Gewalt gegen Zivilisten gesehen, auch verglichen zu den Erlebnissen in Bosnien, wo es wirklich schlimm war. In Syrien wird systematisch versucht, auf Zivilisten zu zielen, um ihren Mut zu brechen. Die Führung nutzt dazu sehr extreme Formen verbrecherischer Gewalt. Doch es funktioniert nicht, denn die Menschen lassen sich nicht entmutigen.
Jonathan Littell ist bekannt als Autor des Romans "Die Wohlgesinnten", für den er 2006 den französischen Literaturpreis "Prix Goncourt" erhielt. Littell bereiste als Mitarbeiter der NGO "Aktion gegen den Hunger" und als Reporter Krisengebiete wie Bosnien, Tschetschenien und Georgien während des Krieges 2008. Im Januar 2012 reiste er für drei Wochen nach Homs, um über die Lage vor Ort zu berichten. Littells "Notizen aus Homs" (Hanser Berlin) sind jetzt als E-Book erschienen. Die Printausgabe gibt es ab 27. August.
tagesschau.de: Wie haben Sie sich vorbereitet, und wie sind Sie nach Homs gelangt?
Littell: Ich arbeitete mit einem Fotografen. Er war bereits für einen Monat dort, als ich anreiste, hat gute Kontakte in Homs und spricht fließend Arabisch. Wir gingen zusammen nach Homs und nutzten seine Kontakte. Es dauerte drei Tage, von der Grenze dorthin zu kommen. Dort habe ich im Januar 15 Tage verbracht. Ich verließ Homs einen Tag vor Beginn des Bombardements gegen die Stadt.
"Aktivisten wollten Informationsblockade durchbrechen"
tagesschau.de: Nahmen jene Leute, die Sie nach Homs schleusten, nicht ein sehr hohes Risiko auf sich?
Littell: Natürlich gingen die Leute Risiken ein, die uns an der Grenze abholten. Sie wären getötet worden, wenn sie erwischt worden wären. Aber für sie war es Teil eines Jobs, für den es sinnvoll war, Risiken einzugehen. Sie waren sich bewusst, dass es für einen Erfolg ihres Kampfes notwendig ist, die Informationsblockade der syrischen Regierung zu durchbrechen.
Für sie ist das Hineinschmuggeln von Journalisten Teil des Kampfes. Außerdem riskieren sie ihr Leben ohnehin jeden Tag, unabhängig davon, was sie tun. Es war genauso, als würden sie Waffen oder Verletzte schmuggeln.
tagesschau.de: Wie haben Sie in Homs recherchiert?
Littell: Die Gefahr war extrem hoch. Wir arbeiteten mit Leuten, die sich als Bürgerjournalisten bezeichneten. Ich würde eher von Aktivisten sprechen. Sie waren sehr jung. 20, 21, 22 Jahre alt, sehr motiviert, sehr entschlossen. Jeden Tag kamen wir an Straßen vorbei, an denen Heckenschützen postiert waren, die die ganze Zeit schossen. Jedes Mal riskierte man eine Schießerei. Also setzten uns die Aktivisten aus Prinzip in die Mitte des Autos und sie sich um uns herum, um uns zu beschützen, falls es zu Schießereien kommen sollte. Sie taten das aus syrischer Gastfreundschaft heraus, die sehr stark ist. 'Wir können an der Tür sitzen', sagten wir. 'Nein, nein, du bist der Gast, du sitzt in der Mitte', antworteten sie.
tagesschau.de: Da Sie illegal eingereist sind, konnten Sie nur auf der Seite der Regierungsgegner recherchieren. Bestand da nicht das Problem, nur eine Seite des Konflikts abbilden zu können?
Littell: Die Regierung ließ Journalisten nicht legal einreisen. Nachdem die französische Zeitung "Le Monde" meine Reportagen veröffentlicht hatte, schrieb die Redaktion einen Brief an das syrische Informationsministerium, dass sie die Oppositionsseite beschrieben habe und um eine Möglichkeit bitte, auch über die Regierungsseite zu berichten. Sie bat um Visa und Gespräche. Aber natürlich wurde das abgelehnt. Die Einseitigkeit ruft das Regime also selbst hervor. Deshalb kann man nicht den Journalisten eine einseitige Berichterstattung vorwerfen.
tagesschau.de: Wie geht man vor Ort mit diesem Problem um?
Littell: Man ist sich der einseitigen Sichtweise auf den Konflikt bewusst und versucht es soweit als möglich zu kompensieren, indem man ein, zwei, drei Mal nachprüft, was die Leute einem erzählen, so wie es jeder normale Journalist tun würde. Man kann nicht einfach glauben, was einem erzählt wird.
tagesschau.de: Von außen ist es schwer einzuschätzen, wie viele Teile des Landes vom Aufstand erfasst sind. Was ist Ihr Eindruck?
Littell: Ich war nur in Homs und kann nur die Ereignisse dort bewerten. Aber wenn man die Informationen aus Syrien liest, hat man den Eindruck, dass sich der Aufstand jede Woche weiter ausbreitet. Das Regime hat immer gesagt, solange Damaskus und Aleppo ruhig sind, passiert nicht wirklich etwas. Nun haben wir Proteste in Aleppo und in Damaskus. Ich denke, das Regime ist dem Untergang geweiht. Doch auf dem Weg dorthin wird es noch viele Menschen töten.
tagesschau.de: Täglich landen Bilder und Videos aus Syrien im Internet. Viele Redaktionen gehen sehr vorsichtig damit um, weil schwer prüfbar ist, wie glaubwürdig die Informationen sind. Wie sehen Sie das?
Littell: Ich habe darüber Debatten geführt, seit ich zurück bin. Die westlichen Medien ziehen sich auf dieses Argument zurück. Aber ich sehe eher ein Problem in der Trägheit westlicher Medien als in der Glaubwürdigkeit der Quellen in Syrien. Ich gebe zu, es ist schwierig, die Herkunft eines Videos auf YouTube zu prüfen. Aber man kann die Produzenten der Bilder und Filme identifizieren und sie auf Twitter oder Skype kontaktieren. Man kann sie als Quellen nutzen und als Stringer (Anm. d. Red.: Freie Mitarbeiter, die Informationen zuliefern) einsetzen, wie es arabische Medien wie "Al Dschasira" tun.
Die Geringschätzung lokaler Quellen ist oft überzogen. Es ist befremdlich, dass eine Person aus dem Westen aus Prinzip vertrauenswürdiger gilt als ein Einheimischer. Man muss einfach herausbekommen, wer der Einheimische ist, was seine Sichtweise ist, dann kann man ihn einordnen. Die Leute sind Aktivisten und keine unabhängigen Journalisten. Aber das bedeutet nicht, dass ein Aktivist keine vertrauenswürdige Quelle sein kann. Zum Glück ändert sich die Dynamik derzeit und die Leute aus dem Westen beginnen, Kontakte aufzubauen.
"Regierung will Aufstand in ethnischen Bürgerkrieg wandeln"
tagesschau.de: In Ihren Reportagen beschreiben Sie Gräueltaten des Regimes, aber auch Vergeltungsakte durch Regierungsgegner.
Littell: Ja, ich erwähne Racheakte, die von Regierungsgegnern begangen wurden. Ich habe sogar den Lynchmord an einem Milizionär der Regierung gesehen. Aber es handelt sich um eine gezielte Strategie der Regierung. Sie will den Aufstand für Demokratie in einen ethnisch bedingten Bürgerkrieg wandeln und lässt zunehmend Morde und Massaker begehen, die auf einen ethnischen und religiösen Hintergrund schließen lassen sollen, um entsprechende Antworten der Regierungsgegner zu provozieren.
tagesschau.de: Gibt es nicht die Gefahr, dass die Oppositionsseite die Kontrolle über die Lage verliert?
Littell: Individuelle Exzesse ausgenommen, hat sich die Opposition bislang geweigert, soweit man das sagen kann, dieser Logik konfessionell bedingter Morde zu folgen. Sie hat im Gegenteil verzweifelt versucht, den Kampf auf der Ebene einer demokratischen Revolution zu halten. Exzesse können nicht verhindert werden. Doch wenn man jemandem deswegen Vorwürfe machen muss, dann der Regierung, die es mit Absicht und systematisch tut. Sie schicken Milizionäre, um die Kehlen von dreijährigen Kindern zu durchschneiden in der Hoffnung, dass die andere Seite die Kehlen von dreijährigen alawitischen Kindern durchschneidet. Dann können sie behaupten, die Opposition tötet Kinder der Alawiten. Aber bislang tut dies die Opposition nicht.
tagesschau.de: Aber Sie erwähnen Fälle von Blutrache.
Littell: In einem meiner Artikel beschreibe ich ein Problem mit der beduinischen Gemeinschaft. Die sunnitische Gemeinschaft der Beduinen hat eine starke Tradition der Blutrache. Wenn Frauen vergewaltigt oder getötet werden, dann haben sie eine starke Tendenz, diese Taten zu vergelten mit Morden an Zivilisten der allawitischen Gemeinschaft. Die Opposition in Homs versucht verzweifelt, dies unter Kontrolle zu halten und diese Dinge nicht geschehen zu lassen. Das ist sehr schwer.
tagesschau.de: Unter westlichen Politikern gibt es eine Debatte, ob und unter welchen Bedingungen ein Militärschlag gegen die syrische Regierung geführt werden sollte. Andere Überlegungen zielen auf die "jemenitische Variante", bei der Präsident Baschar al Assad vor demokratischen Wahlen die Macht an eine Übergangsregierung abgibt. Was halten Sie von solchen Überlegungen?
Littell: Mein Job ist es zu berichten und politische Entscheidungen den Politikern zu überlassen. Was man sagen kann, ist dass der Westen ein Machtvakuum vermeiden will und noch mehr Kämpfe um die Macht. Also wäre ein geordneter Übergang zu einer Form einer offeneren, demokratischen Gesellschaft das beste Szenario. Die meisten Leute der Opposition würden aber niemanden aus der Regierung akzeptieren, es sei denn für eine sehr kurze Zeit und mit einem sehr klaren Mandat, die Regierungsstrukturen aufzulösen. Das ist aber ebenfalls Spekulation, und das überlasse ich den Politikern.
Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de