Lage der zurückgeführten Flüchtlinge "Eine Reise ins Ungewisse"
Was die in die Türkei zurückgeführten Flüchtlinge erwartet, weiß niemand, denn die Behörden schirmen die Flüchtlinge ab. Das sei eine Reise ins Ungewisse, in der sie wie Gefangene behandelt werden, kritisiert Wenzel Michalski von Human Rights Watch im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Sie beobachten auf Lesbos die Rückführungen der Flüchtlinge in die Türkei. Wie erleben Sie die Lage vor Ort?
Wenzel Michalski: Wir wurden von einem Polizisten verjagt, als wir mit Flüchtlingen im Lager Moria sprechen wollten. Die Hotspots sind im Prinzip zu Gefangenenanlagen geworden. Es gibt keinen Zugang für Menschenrechtler und Journalisten. Die Informationspolitik ist sehr restriktiv. Wir kommen nicht ins Lager, reden nur mit Leuten am Zaun und versuchen mit Menschen im Lager zu telefonieren.
tagesschau.de: Wenn es Ihnen gelingt, Kontakt aufzunehmen. Was erfahren Sie?
Michalski: Wir haben mit zwei syrischen Flüchtlingen gesprochen - einer 17 Jahre alt, einer 20. Sie sagen, sie haben Familie in Deutschland. Der 17-Jährige könnte vermutlich ohne Probleme über eine Familien-Zusammenführung nach Deutschland kommen. Aber davon weiß er wahrscheinlich nichts. Die beiden haben einen Asylantrag gestellt, aber sie haben den Antrag auf Griechisch bekommen. Das ist aber eine Sprache, die sie nicht sprechen. Das ist illegal. Jedem muss das individuelle Recht gewährt werden, Asyl in seiner Sprache zu beantragen. Dieses Recht wird hier mit Füßen getreten. Bei den Schnellverfahren bleiben offenbar Menschenrechte auf der Strecke.
Michalski ist seit 2010 Direktor des deutschen Büros von Human Rights Watch. Der studierte Politologe und Historiker arbeitete über 20 Jahre als Journalist, unter anderem für die ARD. Zur Zeit befindet er sich auf der griechischen Insel Lesbos und beobachtet dort die Rückführungen von Flüchtlingen in die Türkei.
Hoffnung auf Europa
tagesschau.de: Viele versuchen offenbar, möglichst schnell einen Asylantrag zu stellen. Mit welcher Motivation?
Michalski: Sie hoffen, wenn sie in die Türkei abgeschoben werden, dass sie dann in den Tauschhandel nach Europa kommen. Denn nur wer einen Asylantrag gestellt hat, hat das Recht in dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei zum Zug zu kommen - und damit vielleicht nach Europa.
Reise ins Ungewisse
tagesschau.de: Was bedeutet das Zurückschicken in die Türkei für die Flüchtlinge?
Michalski: Das ist für die meisten Flüchtlinge eine Reise in die Ungewissheit. Denn es ist nur von syrischen Flüchtlingen die Rede. Andere, die möglicherweise auch Schutz genießen sollten - aus dem Irak, aus Afghanistan - werden der Willkür überlassen. Die Menschen haben Angst vor Abschiebung. Man muss davon ausgehen, dass die Türkei sie nicht behalten möchte.
tagesschau.de: Wie laufen diese Rückführungen ab?
Michalski: Am Montagmorgen wurden aus dem Camp Moria die ersten Menschen mit zwei Bussen zum Hafen gefahren und in Fähren in die Türkei gebracht. Das passierte mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es gibt Bilder, dass die Flüchtlinge am Fenster im Bus Platz nehmen mussten. Daneben saß jeweils ein Polizist. Jeder Ausgewiesene hat einen Polizist zur Seite gestellt bekommen. Wie Gefangene.
Wir haben auch Berichte gehört, dass 400 Afghanen von Lesbos nach Nord-Griechenland gebracht wurden. Wir befürchten, dass sie nun über den Landweg in die Türkei abgeschoben werden. Von Aktivisten hörten wir, dass sie in Handschellen in den Booten waren. Das ist allein aus Sicherheitsgründen verboten. Die Berichte sind glaubhaft. Hier zeigt sich aber das Problem der mangelnden Transparenz, durch die Gerüchte entstehen. Wir wissen, wie man recherchiert, haben Dolmetscher. Wir müssen uns vorstellen, wie es dann erst den Menschen in den völlig überfüllten Camps geht, die diese Möglichkeiten oft nicht haben.
tagesschau.de: Wie hat man sich in der Türkei auf die Rücknahme der Flüchtlinge vorbereitet?
Michalski: Auch dort ist die Informationslage sehr spärlich. Unsere Kollegen bekommen ähnlich wie wir keinen Zugang zu den Camps in der Türkei. Sie dürfen nicht mit den Abgeschobenen sprechen. Das ist sehr bedenklich.
Teils feindselige Bevölkerung
tagesschau.de: Wie reagiert die Bevölkerung auf die Flüchtlinge?
Michalski: In der Türkei gibt es Proteste in den Städten, in denen die Flüchtlinge ankommen. Nicht nur dort, auch in Griechenland gibt es Menschen, die vor den Flüchtlingen Angst haben. Im Camp auf Chios schlafen Menschen auf dem Boden, weil es viel zu voll ist. Daher sollten die Flüchtlinge woanders hingebracht werden, aber es kam zu Ausschreitungen zwischen Bewohnern und Polizei. Hier sieht man, dass Teile der Bevölkerung feindselig sind. Das Problem ist, wenn ich Menschen wie Gefangene behandle, dann entmenschliche ich sie. Dann geht die Bevölkerung auch davon aus, dass es sich um Kriminelle handelt. Bei dem EU-Türkei-Abkommen wird von Zahlen gesprochen. Aber Menschen sind keine Zahlen. Sie haben Geschichten, Rechte und Pflichten. Staaten müssen diese Rechte schützen.
tagesschau.de: Wer ist hier in der Verantwortung?
Michalski: Schuld hat die Europäische Union, denn sie geht sehenden Auges illegal vor, was die Türkei betrifft. Die Türkei hingegen kümmert sich kaum um Menschenrechte. Natürlich muss man sehen, dass die Türkei drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Das ist eine großartige Leistung einerseits, andererseits aber sollten die Flüchtlinge auch gut behandelt werden. Beide Seiten - EU und Türkei - treten Menschenrechte mit Füßen. Das ist tragisch.
Flüchtlinge suchen neue Routen
tagesschau.de: Wie wird es weitergehen?
Michalski: Was passiert, wenn die Kameras hier abgebaut sind, wenn Lesbos und die anderen griechischen Inseln nicht mehr im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen? Wenn dann Familien und Kinder in die Türkei abgeschoben werden, wird es zu Menschenrechtsverletzungen kommen.
Aber das Ziel, dass weniger Flüchtlinge hierher kommen, wird erreicht. Die Flüchtlinge suchen sich neue Routen. In Libyen warten 200.000 Flüchtlinge auf etwas ruhigeres Wasser. Und was dann passieren kann, wissen wir aus den vergangenen Jahren.
Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.