Ein durch Beschuss zerstörtes Wohnhaus liegt in Trümmern, wie man am ersten Jahrestag der Befreiung der Stadt von den russischen Invasoren sieht.
reportage

Jahrestag der Befreiung von Isjum Angst vor einer Rückkehr des Schreckens

Stand: 11.09.2023 16:58 Uhr

Vor einem Jahr befreite die Ukraine das von Russland besetzte Isjum. 11.000 Menschen sind zurückgekehrt. Viele reden nicht gern über die Besatzung. Manche fürchten eine Rückkehr der Russen, manche kollaborierten mit ihnen.

Von Florian Kellermann, ARD Kiew

Der Rathausplatz in Isjum in der Ostukraine, aus dem öffentlichen Lautsprecher kommt ein populäres ukrainisches Lied. "Ich bin im Himmel", tönt es über die Blumenbeete, die die 45-jährige Ljudmila bearbeitet. Sie trägt eine einfache Bluse.

"Das sind Studentenblumen", sagt sie. Diese Blumen habe schon ihre Mutter gesät, das sei eine typisch ukrainische Blume. "Ich nehme hier die verdorrten Blüten heraus, damit die anderen mehr Kraft bekommen."

Die Blumen sollen den Rathausplatz noch möglichst lang hübsch machen, denn die Häuser ringsherum können es nicht. Die Betonfassade des Rathauses mit ihren schlichten Säulen steht noch, aber das Innere ist ausgebrannt. Beim Wohnhaus gegenüber hängen der Dachstuhl und der oberste Stock in Fetzen.

"Wir haben immer noch keine Fenster"

Ljudmila wohnt in einem Einfamilienhaus am Stadtrand. Auch dort seien die Kriegsschäden längst nicht beseitigt: "Wir haben immer noch keine Fenster, und das Dach ist kaputt", sagt sie. "Niemand repariert uns das, und wir selbst haben nicht genug Geld." Die Fenster hätten sie mit Brettern vernagelt. "Aber wenn wir keine richtigen Fenster bekommen, wird es wieder kalt im Winter."

Und das genau ein Jahr nach der Befreiung. Innerhalb weniger Tage vertrieb die ukrainische Armee damals die russischen Besatzer aus weiten Teilen des Regierungsbezirks Charkiw - auch aus Isjum.

Viele Menschen reden nicht gern über die Besatzungszeit

Natürlich sei es gut, dass "unsere Jungs" sie befreit hätten, sagt Ljudmila. Weil die Besatzungszeit so schlimm gewesen sei? Ausweichend sagt sie, ihre Familie habe die meiste Zeit im Keller gesessen, wegen der Schusswechsel.

Auch andere Menschen, die in Isjum auf der Straße unterwegs sind, scheinen nur ungern über die Zeit der Okkupation zu sprechen. Er könne sich denken, warum, sagt Wjatscheslaw. Russland greift wieder an in der Ostukraine, etwas weiter nördlich im Gebiet Kupjansk.

Angst vor Rückkehr der Russen

Der 32-jährige Kriegsinvalide mit Beinprothese sitzt bei einem mit voller Kraft laufenden Springbrunnen. "Diese Situation bei Kupjansk - ich habe heute im Geschäft gefragt, was die anderen davon halten. Alle hoffen, dass die Russen es nicht mehr hierher schaffen, dass unsere Verteidigungsstellungen inzwischen gut genug sind. Wenn sie wieder kommen, werden sie das gleiche tun wie beim ersten Mal - töten und vergewaltigen."

Die Angst ist real, bestätigt Wolodymyr Mazjukin, der Vize-Bürgermeister der Stadt. 11.000 Menschen seien nach der Befreiung zurückgekommen, jetzt lebten hier wieder 24.000. Und sie wüssten, was eine erneute Besatzung bedeute - erneuter Terror.

"Wir haben vor einem Jahr 449 Leichen von Zivilisten in einem Massengrab gefunden", sagt Mazjukin. Aber die Exhumierungen gehen an anderen Stellen weiter, wo Einzelpersonen verscharrt wurden. Auch Leute, die zufällig etwas gesehen haben, was sie nicht sollten, Militärtechnik im Wald etwa, wurden einfach erschossen. Wir werden noch viele Leichen finden."

Erst 150 Tote konnten würdevoll beerdigt werden

Erst etwa 150 Leichen konnte Isjum erneut, diesmal würdevoll, beerdigen, sagt Mazjukin. Die anderen würden immer noch von der Staatsanwaltschaft untersucht. Sie geht davon aus, dass die meisten sich aktiv als Gegner der Besatzung gezeigt hatten und deshalb sterben mussten.

Mazjukin sitzt in einem notdürftig eingerichteten Rathaus. Er nennt einen weiteren Grund, warum die Okkupationszeit ein Tabuthema ist in der Stadt ist: Es habe viele Kollaborateure gegeben.

Kollaboration - "ein schwieriges Thema"

"Das ist ein schwieriges Thema", erklärt Mazjukin. Wenn jemand Staatsverrat begehe, etwa militärische Geheimnisse verrate, sei das eine Straftat. Es habe aber auch die alltägliche Kollaboration gegeben, die viel schwerer einzuschätzen sei.

Die Leiter von Stadtteil-Komitees hätten mit den Besatzern zusammengearbeitet. Auch manche Lehrer seien zu Fortbildungskursen nach Russland gefahren. "'Wir wollten unsere Schule retten', haben sie mir gesagt. Aber welche Schule denn?", fragt Mazjukin. "Schule ist bei uns dort, wo es keinen Unterricht nach ukrainischem Lehrplan gibt."

An einigen Stellen geht es voran

80 Prozent der mehrstöckigen Wohnhäuser seien ganz oder teilweise zerstört worden, erklärt der Vize-Bürgermeister. Die Reparatur der ersten zwölf habe gerade begonnen. Immerhin flössen Strom und Wasser wieder in allen bewohnten Häusern. Und für Wärme im Winter habe die Stadt Container mit mobilen Pellet-Heizungen gekauft. Sie sollen warmes Wasser in die Häuser pumpen.

An der einen oder anderen Stelle geht es wieder voran in Isjum. Davon berichtet auch Jurij Kusnitsow, Unfallmediziner im Krankenhaus. "Wir stehen in mancher Hinsicht besser da als vor dem Krieg, ungeachtet dessen, wie es hier aussieht", sagt er. "Wir setzen bei der Anästhesie jetzt Ultraschall ein, um das Setzen der Nadel zu kontrollieren. Wir haben einige Apparate dafür gespendet bekommen. Aus Deutschland haben wir einen Apparat bekommen, mit dem wir heute einer Patientin den Blinddarm minimalinvasiv entfernen konnten. Morgen wird sie sich schon wieder gesund fühlen."

Ein bisschen Normalität

Der 53-jährige Kusnitsow hat sein Behandlungszimmer im Keller des Krankenhauses, weil so viele Gebäudeteile zerstört sind, auch die OP-Räume. Er zeigt die düsteren Räume, in denen während der russischen Luftangriffe Ärzte und Patienten kauerten. Wer das überstanden habe, den könne so schnell nichts erschüttern, sagt Kusnitsow. Jetzt gebe es immerhin Pläne für einen Neubau des Krankenhauses, dann auch mit Luftschutzkeller.

Schon jetzt kehre zumindest ein bisschen Normalität zurück in die Stadt: "Ich habe vor Kurzem gelacht, weil ich mich gefreut habe, dass mich wieder Angetrunkene auf der Straße anquatschen", erzählt Kusnetzow. Dass es auch mal einen kleinen Verkehrsunfall gebe - das seien "Anzeichen für ein normales Leben". Aber auch der Unfallmediziner fügt hinzu: "Gebe Gott, dass die Russen nicht wieder kommen."

Florian Kellermann, ARD Warschau, zzt. Isjum, tagesschau, 11.09.2023 16:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 11. September 2023 um 09:45 Uhr.