Historiker zu Israels Diplomatie "Netanyahus Plan ist die Annexion"
Hinter der Aufnahme von Beziehungen zu den Emiraten steckt Wahlkampf-Kalkül von Israels Premier Netanyahu, meint der Historiker Zimmermann im tagesschau-Interview. An seiner Annexionspolitik werde sich nichts ändern.
tagesschau: Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hat das geplante Abkommen umgehend als aggressiv kritisiert. Er möchte, dass die Arabische Liga deswegen zusammenkommt. Beschwert er sich zurecht?
Moshe Zimmermann: Auf jeden Fall. Das ist eine Niederlage für die Palästinenser. Das ist ein Erfolg für Israels Premierminister Benjamin Netanyahu, für US-Präsident Donald Trump. Das ist ein Schritt weiter auf dem Weg der Israelis, die West Bank zu annektieren - auf die alte Art und Weise: ohne groß herumzuposaunen, über die israelische Siedlungspolitik. Das wissen die Palästinenser. Deswegen sind sie enttäuscht - und vor allem deswegen, weil ein arabischer Staat jetzt bereit ist, mit Israel Frieden zu schließen.
tagesschau: Es hieß gestern, dass die Pläne für eine Annexion des Westjordanlandes, wie von Netanyahu ja noch im Wahlkampf versprochen, erst einmal gestoppt würden. Was heißt das in ihren Augen genau?
Zimmermann: Das hat Netanyahu gestern schon zugegeben: Sie sind nur vorübergehend gestoppt. Sein Plan ist die Annexion. Und es ist für Israel - jedenfall für die israelische Regierung - sehr bequem, die Annexion weiter so fortzuführen wie bislang. Nicht durch eine Deklaration, nicht durch einen formalen Akt, sondern eben schleichend über die Siedlungspolitik. Und das wird Netanyahu fortsetzen, auch wenn die Politiker in den Vereinigten Arabischen Emiraten davon sprechen, dass sie Israel davon abgehalten haben.
"Es geht nicht um ewigen Frieden im Nahen Osten"
tagesschau: Hinter dem jahrelangen Friedensprozess steht die sogenannte Zweistaatenlösung, an der seit Jahrzehnten gearbeitet wird. Das heißt: ein unabhängiger Staat Palästina neben dem Staat Israel. Auch gestern haben die Vereinigten Arabischen Emirate zum Beispiel wieder davon gesprochen. Bisher waren die Bemühungen aber dafür ziemlich erfolglos. Hat die Zweistaatenlösung aus Ihrer Sicht überhaupt noch eine Chance?
Zimmermann: Die Zweistaatenlösung ist nur ein Slogan. Sie hatte wenig Chancen - vorgestern, gestern und noch weniger morgen. Das heißt: das, was Israel in der Praxis unternimmt, ist ein Versuch, mit dieser Zweistaatenlösung aufzuhören. Das ist ein Erfolg der israelischen Politik von heute. Das ist ein Misserfolg aller, die dagegenhalten wollen - nicht nur der Palästinenser, sondern auch der Europäische Union zum Beispiel.
tagesschau: Trotzdem hieß es gestern, das Abkommen, das jetzt in Aussicht steht, sei historisch ...
Zimmermann: Es ist historisch, dass ein Friedensabkommen geschlossen wurde zwischen Israel und einem weiteren arabischen Staat. Ob es de facto historisch sein wird, das entscheidet die Geschichte selbst. Wir haben schon gesehen: Trump hat mit Nordkorea, mit China Vereinbarungen getroffen, die sich nach einer kurzen Zeit als nicht so wichtig erwiesen. Das könnte auch hier der Fall sein. Die Bemühungen von Netanyahu und von Trump zielen auf eine Sache: wiedergewählt zu werden, im Amt zu bleiben. Und darum geht es - nicht um irgendwelche fernen Ziele wie "ewiger Frieden im Nahen Osten".
Moshe Zimmermann (* 1943) ist ein israelischer Historiker. Er hatte bis 2012 die Professur für neuere Geschichte und insbesondere deutsche Geschichte an der hebräischen Universität Jerusalem inne. In seiner Laufbahn lehrte er unter anderem als Gastprofessor an den Universitäten von Jena, Halle, Heidelberg, München und Princeton.
"Netanyahu versucht alles, um nicht vor Gericht zu stehen"
tagesschau: Der israelische Premierminister steht wegen Korruptionsvorwürfen, aber auch wegen dem Corona-Krisenmanagement in Israel seit Monaten in der Kritik. Wie wichtig ist das Abkommen für Netanyahu jetzt? Was bringt ihm das?
Zimmermann: Alles, was als Erfolg verzeichnet wird - als sein Erfolg - hilft ihm dabei, die Amtsenthebung und die Teilnahme am Gerichtsprozess zu verhindern. Das ist sein Ziel. Und zu diesem Ziel ist auch das, was gestern passierte, ein Beitrag.
So soll es gesehen werden. Er versucht, alles zu unternehmen, um nicht in etwa drei, vier Monaten vor Gericht zu stehen und etwa in einem Jahr auf sein Amt zu verzichten zugunsten seines Kontrahenten und Koalitionspartners Benny Gantz.
Da muss man auch noch betonen: Die Vereinbarung war eine Vereinbarung zwischen Israel und Amerika, Netanyahu und Trump. Weder die Palästinenser noch die Koalitionspartner waren daran beteiligt. Das zeigt also, wie Netanyahu die Innenpolitik in Israel angeht - nicht nur die Außenpolitik.
tagesschau: Aber dann stellt sich natürlich die Frage, wie die Pläne eigentlich in Israel ankommen.
Zimmermann: Für Netanyahu ist die Unterstützung von Trump das A und O. Er betont immer wieder: Alles, was wir tun, ist eine Entscheidung zwischen Trump und mir. Das ist die Parole. Und er versucht auch, die Bevölkerung davon zu überzeugen. Die Mehrheit steht hinter Netanyahu, obwohl es gegen ihn Korruptionsvorwürfe gibt, obwohl die Handhabung der Corona-Pandemie hier katastrophal ist. Trotzdem schafft der angebliche Zauberer es, seine Politik fortzuführen - und zwar mit Folgen. Deswegen bemüht er sich um diese Art von Erfolgen und hofft, dass er es am Ende schafft, weiter im Amt zu bleiben - genauso wie Trump hofft, dass er auch nach November im Amt bleibt. Ob er wiedergewählt wird oder nicht - im Amt wird er bleiben.
"USA sind nicht allein auf der Welt"
tagesschau: Was wäre denn aus Ihrer Sicht jetzt geeignet, um den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern nicht ganz abzuschreiben?
Zimmermann: Was noch fehlt, ist eine Intervention anderer Staaten. Also die USA sind nicht allein auf der Welt. Ich nehme an, dass die Chinesen hier intervenieren werden. Sie wissen: Das ist eine Maßnahme jetzt im Umfeld der Spannungen zwischen China und Amerika, zwischen Iran und den arabischen Staaten. China wird also wahrscheinlich etwas unternehmen.
Aber vor allem ist es die Aufgabe der Europäischen Union, hier etwas zu unternehmen. Wenn die Europäische Union die Palästinenser nicht unterstützt, nicht für die Zweistaatenlösung steht, dann hat diese Zweistaatenlösung keine Chance. Aber es sieht nicht so aus, als ob die Europäer sich sehr darum bemühen werden, da sie auch andere, größere Probleme haben als das Problem Nahost.
Die Fragen stellte tagessschau24-Moderator Tarek Youzbachi.
Hinweis: Das Interview wurde für die schriftliche Fassung an einigen Stellen sprachlich redigiert.