Interview

Serbiens Präsident Boris Tadic "Mladic wurde nur viereinhalb Jahre gesucht"

Stand: 30.05.2011 18:21 Uhr

Mit der Festnahme von Ratko Mladic hat Serbien nach Ansicht von Präsident Tadic bewiesen, dass es ein Rechtssstaat ist. Man müsse bedenken, dass nur wenige Regierungen ernsthaft nach Mladic gesucht hätten, so Tadic im Exklusiv-Interview mit ARD-Korrespondentin Susanne Glass. Von der EU fordert er nun ein konkretes Datum für Beitrittsverhandlungen.

tagesschau.de: Herr Präsident, was für ein Gefühl war das, als Sie die Mitteilung bekommen haben, dass es gelungen ist, Ratko Mladic festzunehmen?

Boris Tadic: Mir ist eine große Last von der Seele gefallen. Auch weil ich mir ganz sicher bin, dass wir eine große Sache für das serbische Volk erreicht haben. Denn bisher wurde immer wieder in Frage gestellt, ob Serbien in der Lage sei, seine moralischen und rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen – und auch, dass Serbien ein Rechtsstaat ist. Das haben wir jetzt bewiesen.

Ratko Mladic

Nach Jahren auf der Flucht, wurde der mutmaßliche Kriegsverbrecher Ratko Mladic am 26. Mai in Serbien gefasst. Die Zeitung "Politika" veröffentlichte kurz nach der Festnahme dieses undatierte Foto des Ex-Generals.

tagesschau.de: Warum konnte Mladic denn so lange untertauchen?

Tadic: Ich muss Sie daran erinnern, dass wir in diesen 16 Jahren mehrere Regierungen hatten. Die erste Zeit war Slobodan Milosevic noch an der Macht, bis zum 5. Oktober 2000. Danach hatten wir etwa zwei Jahre lang die Regierung von Zoran Djindjic, dem ersten demokratisch gewählten Premierminister Serbiens. Dessen Regierung hat Milosevic verhaftet und ausgeliefert. Später kam Vojislav Kostunica an die Macht, dessen Regierung sicher nicht die gleiche Bereitschaft gezeigt hat, mit dem Haager Tribunal zusammenzuarbeiten.

Zur Person

Boris Tadic ist seit 2004 Präsident Serbiens. Er ist außerdem Vorsitzender der Demokratischen Partei in Serbien. 2002 war er in der Regierung von Zoran Djindjic Minister für Telekommunikationswesen der Bundesrepublik Jugoslawien und später Verteidigungsminister in der Regierung von Serbien und Montenegro. Tadic gilt als westlich orientiert und tritt seit langem für einen EU-Beitritt Serbiens ein. Ein unabhängiges Kosovo lehnt er aber ab.

Erst 2008 formte die Regierung von Mirko Cvetkovic einen neuen Nationalen Sicherheitsrat (für die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal, Anmerk. D. Verf.), der jetzt letztendlich diesen ganzen Prozess beendet hat. So hatten wir in den letzten 16 Jahren genau genommen nur die zwei Jahre der Regierung Djinjdic und zweieinhalb Jahre der Regierung Cvetkovic - also insgesamt viereinhalb Jahre - der ehrlichen und vollen Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal.

In all den anderen Jahren hatten wir Regierungen, die nicht bereit waren, das Risiko der Zusammenarbeit mit Den Haag auf sich zu nehmen und so ranghohe Personen zu verhaften und damit auch große persönliche Risiken auf sich zu nehmen.

Und nochmals zu Ratko Mladic: Ganz am Anfang seiner Flucht hat er ganz sicher den Schutz aus dem Militärestablishment genossen. Das war auch noch zur Zeit von Slobodan Milosevic. So hat sich die Art, wie er sich versteckt hat, immer wieder geändert. Wir fangen jetzt erst an, uns aus all den Puzzle-Teilchen ein größeres Bild zu machen. Und die zuständigen Institutionen werden an die Öffentlichkeit gehen, sobald das Bild komplettiert ist. Ich bin aber ganz sicher, dass in den letzten zweieinhalb Jahren niemand aus dem politischen Establishment Ratko Mladic Schutz geboten hat. Dafür kann ich garantieren.

Leider muss ich sagen, dass nach der Verhaftung von Ratko Mladic und unmittelbar vor seiner Auslieferung jetzt Spekulationen aufkamen und eine Welle neuer Angriffe gegen Serbien, dass Serbien die ganze Zeit wusste, wo Ratko Mladic sich befindet - was nicht stimmt. Und gegen solche Unwahrheiten kann ich nicht viel ausrichten außer immer wieder zu erwähnen, dass wir es nicht wussten. Und ich sage auch vor der deutschen Öffentlichkeit, dass Serbien in der Amtszeit der demokratischen Regierungen alles getan hat, um diese Angelegenheit hinter sich zu bringen.

Diejenigen, die meinen, dass dieser Prozess der Fahndung nach Ratko Mladic zu lange gedauert hat, möchte ich daran erinnern, wie lange die Suche nach Osama Bin Laden gedauert hat. Diejenigen, die nach Bin Laden gesucht haben, wissen ganz genau, wie schwierig und komplex es ist, wenn man nach einem Mann fahndet.

tagesschau.de: Welche politischen Risiken nehmen Sie auf sich, weil 51 Prozent der Serben immer noch sagen, Mladic sei ein Held?

Tadic: Als Politiker habe ich kein Recht, in so einer Angelegenheit mit politischen Vor- oder Nachteilen zu kalkulieren. Ich wusste, dass die Verhaftung und Auslieferung von Ratko Mladic stattfinden muss. Und vom ersten Tag der Amtszeit dieser Regierung und meines Präsidentenamtes war ich bereit, das zu tun. Das heißt, ich war bereit, unsere moralische, innerstaatliche und internationale Verpflichtung zu erfüllen. Ich wusste immer, ganz egal wie sich das auf die Wahlen niederschlägt, dass wir das machen müssen. In dieser Sache hat es gar keinen Grund oder Anlass gegeben für politische Kalkulationen, wir haben einfach getan, was getan werden muss.

tagesschau.de: Und wie schätzen Sie Ihr persönliches Risiko ein?

Tadic: Auch da habe ich kein Recht, in dieser Angelegenheit Vor- und Nachteile und mögliche Risiken abzuwägen, genauso wenig wie das damals (der 2003 ermordete, Anmerk. d. Red.) Zoran Djindjic gemacht hat.

tagesschau.de: Was ist Ihre Botschaft an die 51 Prozent der Serben, die immer noch sagen, Ratko Mladic sei ein Held?

Tadic: Ob Mladic ein Held ist, werden diese 51 Prozent erfahren, wenn der Prozess in Den Haag gegen ihn abgeschlossen ist. Angesichts der Schwere der Anklagepunkte wird dieser Prozess sehr bedeutend sein. Ich persönliche sehe die Rolle von Ratko Mladic und anderen Teilnehmern der Kriege der 90er-Jahre "etwas anders" und sicherlich habe ich eine ganz andere Vorstellung von Heldentum. 

Dabei will ich gar nicht infrage stellen, dass Ratko Mladic oder andere Militärs auch das serbische Volk in der serbischen Teilrepublik in Bosnien-Herzegowina verteidigt haben. Denn es ist ganz offensichtlich, dass alle Kriegsparteien in Bosnien-Herzegowina auch üble Absichten hatten, extreme Serben genauso wie extreme (muslimische, Anmerk. d. Red.) Bosniaken oder extreme Kroaten. Kriegsverbrecher hat es dort auf allen Seiten gegeben. Und wer welche Rolle in diesem Krieg hatte, kann nur das Gericht definieren.

tagesschau.de: Was erhoffen Sie sich jetzt konkret von der Europäischen Union?

Tadic: Wir fordern jetzt natürlich ein Datum für den Anfang der Verhandlungen mit der Europäischen Union. Ich bin sicher, dass Serbien dieses Datum verdient hat. Außerdem erhoffe ich mir, dass auch für Serbien ausschließlich die Kopenhagener Kriterien gelten, was die EU-Integration Serbiens anbelangt. Von den serbischen Behörden und unserer Regierung erwarte ich natürlich auch, dass diese Kriterien umgesetzt werden. Das ist sicherlich vorteilhaft für unsere Bürger.

Auf uns warten aber auch schmerzliche Einschnitte und wir erwarten von Brüssel, dass es unsere Bemühungen und Erfolge auch anerkennt. Wenn Serbien die Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnimmt, dann ist der europäische Weg für Serbien unumkehrbar. Wenn das nicht passiert, wird wieder denjenigen bei uns im Land eine Chance gegeben, die Serbien nicht in der EU sehen wollen. Denjenigen, die sich im Westbalkan ewige Spannungen und Konfrontationen, vielleicht sogar Kriege wünschen.

tagesschau.de: Was kann Serbien in die EU einbringen?

Tadic: Ohne Serbien in der EU gibt es keine Stabilität auf dem westlichen Balkan. Und es würde immer das Risiko bleiben, dass sich die Politik hier zum wiederholten Male ändern könnte. Denn der westliche Balkan leidet chronisch unter Kleinstaaterei, Teilungen, Instabilität - und unter der Bereitschaft vieler Regierungen in der Vergangenheit, ihre Völker in den Krieg zu schicken. Den Preis dafür haben nicht zuletzt auch europäische Länder bezahlt.

Den Balkan kann man unmöglich isolieren. Und am vernünftigsten und am allereinfachsten ist es, den ganzen Balkan in die EU zu integrieren. Kroatien ist als erstes Land an der Reihe, was auch natürlich ist, denn sie sind am weitesten mit den Verhandlungen vorangeschritten, gleich danach wären Serbien und Montenegro an der Reihe. Danach oder mit ihnen auch andere Länder.

Dabei muss natürlich jedes Land einzeln die Kriterien für den Beitritt erfüllen, um nicht eine Last für die europäischen Steuerzahler zu sein. Aber auch die Politiker und die Steuerzahler in diesen europäischen Ländern sollten wissen, dass nur ein integrierter Balkan eine vernünftige Lösung ist. Sonst wird der Balkan immer nur ein Faktor der Instabilität sein.

tagesschau.de: Haben Sie ein Wunschdatum für den Beitritt zur EU?

Tadic: Ich denke, dass Anfang Frühling 2012 ein richtiger Zeitpunkt wäre für den Anfang der Verhandlungen mit der EU.

Das Interview führte Susanne Glass, ARD-Studio Südosteuropa