Interview zur Lage in Libyen "Gaddafi wird kämpfen bis zuletzt"
Die Alliierten setzen Libyens Staatschef Gaddafi mit Militärschlägen unter Druck. Sollte er stürzen, sei die arabische Revolution nicht mehr aufzuhalten, sagt Nahost-Experte Lüders. Im Interview mit tagesschau.de warnt er vor einer Zweiteilung des Landes durch den Krieg und großen Problemen nach einem Sturz Gaddafis.
tagesschau.de: Die UN-Resolution sieht ein Flugverbot vor und zielt auf den Schutz der Zivilisten in Libyen ab. Sind alle derzeitigen Angriffe auf Stellungen der Regierungstruppen dadurch abgedeckt?
Michael Lüders: Ich habe noch nicht gehört, dass sich jemand in diesem Zusammenhang beklagt hätte. Die Resolution ist sehr weit gefasst. Sie rechtfertigt alle Militäraktionen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen. Wenn die Kommandostrukturen von Gaddafis Truppen zerstört werden, ist das sicherlich in diesem Sinne zu interpretieren.
Michael Lüders ist Autor und Publizist und berät Firmen und Ministerien in Bezug auf den Nahen Osten. Er organisiert Geschäftsreisen, begleitet Verhandlungen und schult Mitarbeiter für Auslandseinsätze. Lüders studierte arabische Literatur in Damaskus und Islam- und Politikwissenschaften in Berlin.
tagesschau.de: Wo liegt die Grenze zwischen der Durchsetzung der UN-Resolution und Angriffen, die auf den Sturz Gaddafis abzielen?
Lüders: Das ist eine sehr theoretische Überlegung, die vor Ort ganz praktisch entschieden wird. Bislang haben die Bombardierungen offenbar unter den Zivilisten keine größeren Schäden hervorgerufen. Man hat den Eindruck, dass die Alliierten bislang alles richtig gemacht haben. Das kann sich natürlich schnell ändern. Natürlich wären getötete Zivilisten ein gefundenes Fressen für die Propaganda des Regierungsapparates unter Gaddafi.
tagesschau.de: Die Aufständischen fühlen sich durch die Entwicklung ermutigt. Welche Entwicklung wäre in Libyen zu erwarten, wenn Gaddafi aufgeben sollte?
Lüders: Er wird nicht aufgeben. Er wird kämpfen bis zuletzt. Es würde mich sehr wundern, wenn er bereit wäre zu Kompromissen. Es gibt zwei Szenarien: Entweder gelingt es den Aufständischen, von Osten aus in Richtung Tripolis vorzustoßen, und zwar relativ schnell. Oder es gelingt ihnen nicht und dann greift das zweite Szenario: Dieser Krieg in Libyen könnte sich dann hinziehen bis zur Zweiteilung des Landes.
tageschau.de: Der Zerfall des Staates wäre aus Ihrer Sicht eine realistische Möglichkeit?
Lüders: Ein Zerfall des Staates nicht unbedingt, aber eine Zweiteilung, zumindest vorübergehend. Aber alles, was wir über die Zukunft Libyens jetzt sagen, ist reine Spekulation. Niemand weiß, wie sich die Dinge vor Ort entwickeln werden und in welchem Tempo die Aufständischen Geländegewinne erzielen. Wir wissen auch nicht, wie sich eine künftige Regierung zusammensetzen wird. Im Augenblick konzentriert sich das Geschehen in Libyen auf die Kriegshandlung. Ob im Hintergrund schon Bemühungen stattfinden, zumindest im Osten des Landes Regierungsstrukturen einzusetzen, ist im Augenblick nicht bekannt.
tageschau.de: Aus welchen Gruppen setzen sich die Aufständischen zusammen und wer hat in ihren Reihen den größten Einfluss?
Lüders: Das lässt sich von außen so gut wie gar nicht ermessen. Grundsätzlich werden sich die Stammesvertreter der wichtigsten Stämme zusammenfinden und mit den Kriegsführenden, darunter auch ehemalige Gaddafi-Offiziere und -Soldaten, zusammensetzen müssen, um eine Übergangsregierung zu formen. Der Staatsbildungsprozess in Libyen wird sehr schwierig sein. Der libysche Staat war bisher im Wesentlichen Gaddafi und sein Clan. Wenn er gestürzt werden sollte, muss man wieder bei Null anfangen. Man muss den Staat neu erfinden, auch mit Blick auf die grundlegenden Strukturen des Landes. Gerichtsbarkeit, Parteiwesen - all das gibt es bislang nicht.
tagesschau.de: Der Arabischen Liga gehen die Luftschläge der westlichen Staaten zu weit, obwohl sie selbst die Flugverbotszone gefordert hatte. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die öffentliche Meinung in den arabischen Ländern für die weitere Entwicklung in Libyen?
Lüders: Die öffentliche Meinung unterstützt weitestgehend diesen Militärschlag gegen den libyschen Diktator. Es gibt keinen Diktator, der so verhasst wäre wie Gaddafi. Die arabische Öffentlichkeit ist nicht das Problem - es sind die arabischen Regierungen. Sie wollen einerseits zwar auch den Sturz Gaddafis, haben aber andererseits Sorge, dass sie selbst als nächste an der Reihe sind.
"Ich sehe keine politischen Risiken"
tagesschau.de: Worin bestehen die politischen Risiken für die Länder, die sich an den Militäraktionen in Libyen beteiligen?
Lüders: Ich sehe im Augenblick keine politischen Risiken. Die Risiken wären sehr viel größer, wenn man nichts getan hätte. Es gibt natürlich bei einer Militäraktion immer das Risiko, dass man nicht mehr weiß, wie man rausfindet. Aber da das Mandat begrenzt ist und niemand ernsthaft vorhat, Bodentruppen zu entsenden, scheint das Szenario überschaubar zu sein.
tagesschau.de: Die Idee einer Flugverbotszone wurde in den 1990er-Jahren im Irak und auf dem Balkan umgesetzt. Lässt sich mit Blick auf die damaligen Erfahrungen die aktuelle UN-Resolution überhaupt ohne den Einsatz von Bodentruppen durchsetzen?
Lüders: Man kann diese Konflikte nicht miteinander vergleichen. Die Geschichte im Irak war eine ganz andere und hatte einen anderen Hintergrund. Die Flugverbotszone war damals eines von mehreren Instrumenten, um das Saddam-Regime zu schwächen in Vorbereitung eines Angriffs zu seinem Sturz, der dann 2003 auch erfolgt ist. Das war ein ganz anderes Szenario. In Libyen wird das alles nicht so lange dauern. Denn Gaddafi hat nicht viel Rückhalt in der eigenen Bevölkerung - auch in den westlichen Landesteilen nur zum Teil.
"Wenn Gaddafi fällt, ist überall mit Aufständen zu rechnen"
tagesschau.de: Welchen Einfluss wird die Entwicklung in Libyen auf die Protestbewegung in den anderen arabischen Staaten haben?
Lüders: Wenn Gaddafi fällt, ist die arabische Revolution nicht mehr aufzuhalten. Dann ist in jedem arabischen Land mit einem Aufstand zu rechnen, selbst in den Ländern, in denen das gegenwärtig kaum vorstellbar erscheint: in Algerien, in Saudi-Arabien.
Das Interview führte David Rose, tagesschau.de.